Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Paride ed Elena, Nürnberg 2014
Süddeutsche Zeitung, 28. Juli 2014
Süddeutsche Zeitung, 28. Juli 2014
Nichts mehr von Unschuld
Glucks Oper „Paris und Helena“ in der Inszenierung von Sebastian Hirn bringt das Nürnberger Opernpublikum in Wallung
von Egbert Tholl
Glucks Oper „Paris und Helena“ in der Inszenierung von Sebastian Hirn bringt das Nürnberger Opernpublikum in Wallung
von Egbert Tholl
Nürnberg - Herrlich, es gibt sie noch, die Theaterskandale. Naja, ein Skandal ist es ja eigentlich überhaupt nicht, was sich hier im Nürnberger Opernhaus ereignet, sondern vielmehr eine saugute Aufführung, aber weil der Regisseur Sebastian Hirn die Unabdingbarkeit der Geschichte, die im Kern gar keine ist, sondern eine gnadenlose Seelzustandsbeschreibung, weil Hirn also auf eben dieser Unabdingbarkeit beharrt und am Ende des ersten Teils seiner Fassung von Glucks Oper „Paris und Helena“ eine Scheinwerferwand gegen das nun geblendete Publikum kehrt, gibt es in diesem, dem Publikum, Randale. Die einen bemitleiden die Sänger, die anderen brüllen einfach nur Buh, manche finden es richtig Scheiße, vielleicht weil die Übertitel nicht mehr zu lesen sind, die anderen treten flugs für die Aufführung ein. Aus sonst in der Oper oft frostigen Franken wird eine tobende Horde, ein Disput verselbstständigt sich. Und ganz am Ende steht das Publikum und jubelt, manche buhen immer noch - so lebendig hat man das Nürnberger Opernpublikum selten erlebt.
Die Gluck-Opernfestspiele sind zu Gast im Nürnberger Opernhaus, borgen sich von diesem das unter dem Alte-Musik- Prachtkerl Andreas Spering fabelhaft aufspielende, nun zum Präklassik-Spezial-Ensemble gewordene Opernorchester, also die Staatsphilharmonie Nürnberg, und wundern sich vermutlich ein wenig, was passiert, wenn man einen Regisseur wie Sebastian Hirn engagiert, um eine weithin unbekannte Gluck-Oper zu inszenieren, die aber zum Avanciertesten zählt, was das 18. Jahrhundert im Musiktheater zu bieten hat. Dagegen wirkt selbst manches von Mozart wie Musik vom Opa. Das Ding stammt von 1770 und verstörte das Uraufführungspublikum gänzlich. Christoph Willibald Ritter von Gluck erzählt keine Geschichte. Er beschreibt das Innenleben von Paris und Helena, den beiden Menschen, die den größten Krieg der Antike mit ihrer Liebe vom Zaun brachen, in aller Unschuld der Gefühle. Die Situation, die Glucks Oper entwirft, hat nichts mehr von Unschuld, denn der Krieg ist vorbei und die Welt verwüstet, Paris wird an Helenas Gestade gespült, liebt sie immer noch in durch nichts in Frage zu stellender Haltlosigkeit, Helena ist skeptisch, ungehalten, verzweifelt und sehr harsch.
Ein Stück mit avantgardistischem Ausnahmecharakter
Glucks Bestreben als Opernreformator war es, die Eitelkeit der in ihre Da-Capo-Nummem verliebten Sänger zum Wohle der dramatischen Stringenz einzudämmen.
Die Gluck-Opernfestspiele sind zu Gast im Nürnberger Opernhaus, borgen sich von diesem das unter dem Alte-Musik- Prachtkerl Andreas Spering fabelhaft aufspielende, nun zum Präklassik-Spezial-Ensemble gewordene Opernorchester, also die Staatsphilharmonie Nürnberg, und wundern sich vermutlich ein wenig, was passiert, wenn man einen Regisseur wie Sebastian Hirn engagiert, um eine weithin unbekannte Gluck-Oper zu inszenieren, die aber zum Avanciertesten zählt, was das 18. Jahrhundert im Musiktheater zu bieten hat. Dagegen wirkt selbst manches von Mozart wie Musik vom Opa. Das Ding stammt von 1770 und verstörte das Uraufführungspublikum gänzlich. Christoph Willibald Ritter von Gluck erzählt keine Geschichte. Er beschreibt das Innenleben von Paris und Helena, den beiden Menschen, die den größten Krieg der Antike mit ihrer Liebe vom Zaun brachen, in aller Unschuld der Gefühle. Die Situation, die Glucks Oper entwirft, hat nichts mehr von Unschuld, denn der Krieg ist vorbei und die Welt verwüstet, Paris wird an Helenas Gestade gespült, liebt sie immer noch in durch nichts in Frage zu stellender Haltlosigkeit, Helena ist skeptisch, ungehalten, verzweifelt und sehr harsch.
Ein Stück mit avantgardistischem Ausnahmecharakter
Glucks Bestreben als Opernreformator war es, die Eitelkeit der in ihre Da-Capo-Nummem verliebten Sänger zum Wohle der dramatischen Stringenz einzudämmen.
Diesen Weg gehen Sebastian Hirn, sein Dramaturg Christian Baier und Andreas Spering weiter. Sie verdichten das ohnehin durchkomponierte Stück, stellen ein bisschen um, schmeißen die Ballette und anderes raus. Der Vorgang ist schon des halb legitim, weil von „Paris und Helena“ kein Autograf existiert, lediglich ein Druck, der aber auch nur die Fassung einer bestimmten Aufführung wiedergibt. Nun gibt es halt eine Fassung mehr. Und man kann nur hoffen, dass die Aufführung aufgezeichnet wurde, denn von Glucks Oper gibt es zwar eine toll besetzte Aufnahme von Paul McCreesh (und vielleicht noch andere), aber das, was sich in Nürnberg ereignet, unterstreicht den avantgardistischen Ausnahmecharakter des Stücks viel stärker. Wie überhaupt die gesamte Produktion an Festivals verkauft gehört - die Wiener Festwochen etwa kämen einem in den Sinn. Szene und Musik verschmelzen zu einem wuchtigen emotionalen Block. Der Regisseur Sebastian Hirn vergrößert im wüsten, leeren, von Wassergräben durchzogenen Raum die Sänger mittels Video, zur Ouvertüre werden Anna Dennis und Aleksandra Zamojska als liebendes, sich auslieferndes, Schaum umwölktes Paar in den Himmel des Zuschauerraums projiziert. Es gibt ein wenig Gerümpel, die die Konturen der Figuren auslöschenden Scheinwerfer - und grandiose Darstellerinnen, von Hirn zum Äußersten angetrieben, worin sich Dennis und Zamojska, Paris und Helena, offenbar sehr wohlfühlen.
Die Liebenden hier versäumten nichts, aber rein gar nichts
Aleksandra Zamojska ist ein fabelhaftes Ausdruckstier - ihre Helena kämpft mit Wut und purem stimmlichen Expressionismus gegen die Liebe an. Anna Dennis ist klares Leiden, herrlichste Hingabe, schönste Verführung. Der Clinch wird ein bisschen und sehr farbig von Amor (Anna Grechishkina) moderiert und von Pallas Athene (Christiane Oelze) mit würdevoller Unausweichlichkeit beendet.
„Die Zeit verweht Glück und Liebe.“ Aber: „Was du versäumt hast, das kehrt nie wieder.“ Die Liebenden hier versäumten nichts, aber rein gar nichts.
Die Liebenden hier versäumten nichts, aber rein gar nichts
Aleksandra Zamojska ist ein fabelhaftes Ausdruckstier - ihre Helena kämpft mit Wut und purem stimmlichen Expressionismus gegen die Liebe an. Anna Dennis ist klares Leiden, herrlichste Hingabe, schönste Verführung. Der Clinch wird ein bisschen und sehr farbig von Amor (Anna Grechishkina) moderiert und von Pallas Athene (Christiane Oelze) mit würdevoller Unausweichlichkeit beendet.
„Die Zeit verweht Glück und Liebe.“ Aber: „Was du versäumt hast, das kehrt nie wieder.“ Die Liebenden hier versäumten nichts, aber rein gar nichts.
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Das Opernglas, 35. Jg, September 2014
INTERNATIONALE GLUCKOPERN-FESTSPIELE
Paride ed Elena - Opernhaus Nürnberg
Packendes Musiktheater in Nürnberg:
Anna Dennis und Aleksandra Zamojska in den Hauptpartien von Glucks »Paride ed Elena«
von J. Gahre
Paride ed Elena - Opernhaus Nürnberg
Packendes Musiktheater in Nürnberg:
Anna Dennis und Aleksandra Zamojska in den Hauptpartien von Glucks »Paride ed Elena«
von J. Gahre
Als Christoph Willibald Gluck 1770 mit »Paride ed Elena« seine dritte Reformoper in italienischer Sprache in Wien schrieb, vermerkte er ausdrücklich im Vorwort: „Die Handlung forderte der Einbildungskraft des Komponisten nicht die gleichen heftigen Leidenschaften und tragischen Situationen ab, die das Publikum in »Alceste« erschütterten. Eine ebenso kraftvolle, energische Musik ist also nicht zu erwarten. Hier muss es ein liebender Jüngling mit der Sprödigkeit einer schönen, stolzen Frau aufnehmen; am Ende besiegt er sie mit allen Listen verzehrender Leidenschaft.“
Was jedoch in Nürnberg, wo der selten gespielte »Paride« von Sebastian Hirn im Rahmen der Internationalen Gluck Opern- Festspiele inszeniert wurde, zu sehen und zu hören war, entsprach so gar nicht dem, was man erwartet hatte. Der Regisseur hatte zusammen mit Christian Baier eine eigene Fassung erarbeitet, die stark in die Handlung eingreift, ja, sie eigentlich sogar auf den Kopf stellt: In Nürnberg endet die Oper nicht mit dem Versprechen Amors, das junge Liebespaar Helena und Paris sicher nach Troja zu geleiten, sondern mit Parides Tod am Ende des Trojanischen Krieges, also zehn Jahre später. Die siegreichen Griechen plündern die Stadt und suchen die Hauptschuldigen, Paris und Helena. Sie sollen sich vordem Siegertribunal rechtfertigen. Die verzweifelte Helena beteuert ihre Unschuld und gibt vor, Paris immer wieder abgewiesen zu haben. Dieser aber hält an seiner Liebe fest - delirierend durchstreift er das zerstörte Troja. Schließlich greift die Göttin Pallas Athene ein: Amor bringt Paris vor ihren Augen um und überlässt Helena einem ungewissen Schicksal.
Sebastian Hirn, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, hat sich hier also als radikaler Umdeuter betätigt, dem die Freilegung der emotionalen Wahrhaftigkeit und das schonungslose Aufzeigen der „feinnervigen Innenschau einer folgenschweren Liebe“ wichtiger war als das Festhalten am Original. Hässliche, bunte Plastikstühle lagen wild durcheinandergewürfelt auf der Bühne neben einem Haufen alter Kleider. Das verbreitete eine Atmosphäre der Trostlosigkeit und einer überall lauernden Gefahr, die durch aggressive Beleuchtung und auf und ab marschierende Soldaten noch verstärkt wurde. Hier war niemand vor niemandem sicher und Amor nicht der liebenswerte, geflügelte Knabe,dessen Pfeil das menschliche Herz der Liebe unterwirft, sondern ein äußerst radikaler Gehilfe der Pallas Athene, der der ohnehin schon malträtierten Helena auch mal eine Ohrfeige gab, wenn sie nicht das tat, was er ihr befohlen hatte. Und Paris ertränkte er mit geradezu bestialischer Brutalität in einem Wasserbecken. Helena, eine geschundene, nur mit einem blutbeschmierten Negligé bekleidete Frau, war jawohl schon mehrmals missbraucht worden, wenn sie eine weitere Vergewaltigung durch einen Soldaten ohne Gegenwehr geschehen ließ. Sie wurde, ebenso wie auch Paris und Amor, live gefilmt (Video- und Tontechnik Dorian Häfner), was dem Publikum die Leiden der Liebenden mit geradezu rücksichtsloser Härte vor Augen führte. In seiner Liebe zu Helena ist Paris so maßlos, dass er jeden Bezug zur Realität verliert.
Was jedoch in Nürnberg, wo der selten gespielte »Paride« von Sebastian Hirn im Rahmen der Internationalen Gluck Opern- Festspiele inszeniert wurde, zu sehen und zu hören war, entsprach so gar nicht dem, was man erwartet hatte. Der Regisseur hatte zusammen mit Christian Baier eine eigene Fassung erarbeitet, die stark in die Handlung eingreift, ja, sie eigentlich sogar auf den Kopf stellt: In Nürnberg endet die Oper nicht mit dem Versprechen Amors, das junge Liebespaar Helena und Paris sicher nach Troja zu geleiten, sondern mit Parides Tod am Ende des Trojanischen Krieges, also zehn Jahre später. Die siegreichen Griechen plündern die Stadt und suchen die Hauptschuldigen, Paris und Helena. Sie sollen sich vordem Siegertribunal rechtfertigen. Die verzweifelte Helena beteuert ihre Unschuld und gibt vor, Paris immer wieder abgewiesen zu haben. Dieser aber hält an seiner Liebe fest - delirierend durchstreift er das zerstörte Troja. Schließlich greift die Göttin Pallas Athene ein: Amor bringt Paris vor ihren Augen um und überlässt Helena einem ungewissen Schicksal.
Sebastian Hirn, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, hat sich hier also als radikaler Umdeuter betätigt, dem die Freilegung der emotionalen Wahrhaftigkeit und das schonungslose Aufzeigen der „feinnervigen Innenschau einer folgenschweren Liebe“ wichtiger war als das Festhalten am Original. Hässliche, bunte Plastikstühle lagen wild durcheinandergewürfelt auf der Bühne neben einem Haufen alter Kleider. Das verbreitete eine Atmosphäre der Trostlosigkeit und einer überall lauernden Gefahr, die durch aggressive Beleuchtung und auf und ab marschierende Soldaten noch verstärkt wurde. Hier war niemand vor niemandem sicher und Amor nicht der liebenswerte, geflügelte Knabe,dessen Pfeil das menschliche Herz der Liebe unterwirft, sondern ein äußerst radikaler Gehilfe der Pallas Athene, der der ohnehin schon malträtierten Helena auch mal eine Ohrfeige gab, wenn sie nicht das tat, was er ihr befohlen hatte. Und Paris ertränkte er mit geradezu bestialischer Brutalität in einem Wasserbecken. Helena, eine geschundene, nur mit einem blutbeschmierten Negligé bekleidete Frau, war jawohl schon mehrmals missbraucht worden, wenn sie eine weitere Vergewaltigung durch einen Soldaten ohne Gegenwehr geschehen ließ. Sie wurde, ebenso wie auch Paris und Amor, live gefilmt (Video- und Tontechnik Dorian Häfner), was dem Publikum die Leiden der Liebenden mit geradezu rücksichtsloser Härte vor Augen führte. In seiner Liebe zu Helena ist Paris so maßlos, dass er jeden Bezug zur Realität verliert.
Ein extrem grelles, in den Zuschauerraum gerichtetes, sich ständig steigerndes Licht versinnbildlichte die Orientierungslosigkeit des durch Liebe Verblendeten. Ein außerordentlich effektvoller, auch das Publikum „blind“ machender Regieeinfall!
Ein derart radikal umdeutendes Regiekonzept kann natürlich nur dann aufgehen, wenn die vier Sängerinnen, das Orchester und der Dirigent uneingeschränkt dahinterstehen. Das schien hier der Fall gewesen zu sein, denn sonst hätte diese Inszenierung nicht eine so ungewöhnliche, mitreißende Sogkraft entwickeln können. Auch wenn manches Detail in der Regie nicht gleich verständlich war, das Ganze fügte sich zu einem außergewöhnlich fesselnden Opernerlebnis, das niemanden unberührt ließ. Erstaunlich, dass Glucks Musik das alles trug, als sei sie für diese Handlung geschrieben worden.
Die Engländerin Anna Dennis war ein Paride von herausragenden Qualitäten. Ihr sinnlicher, in den Höhen leuchtender, ungemein geschmeidiger Sopran, der auch über samtene Tiefen verfügt, war wie geschaffen für die Rolle des unglücklich liebenden trojanischen Prinzen. Der leidgeprüften Helena verlieh die polnische Sopranistin Aleksandra Zamojska mehrere Gesichter. Zum einen gab sie sich als apathisch wirkendes Opfer, zum anderen versuchte sie, sich ihrer Haut zu wehren, sich reinzuwaschen. Ihrer kraftvollen, sehr ausdrucksstarken Stimme konnte sie eine facettenreiche Palette an Emotionen mühelos abverlangen. Auch der
Amor war mit der Russin Anna Grechishkina rollendeckend besetzt. Ihr hoher Sopran besaß die nötige Durchschlagskraft, um sich stets durchzusetzen. Und wenn sie Helena auf Russisch herumkommandierte und vorher mit einem gebieterischen Zeichen das Orchester zum Schweigen brachte, dann war das äußerst beeindruckend. Die kleine, aber für das Geschehen wichtige Rolle der Pallas Athene war ebenfalls mit einem Sopran, mit Christiane Oelze, besetzt - ein weiterer Glanzpunkt am Ende der Oper!
Die Staatsphilharmonie Nürnberg unter dem Alte-Musik-Spezialisten Andreas Spering konnte schon in der prachtvollen Ouvertüre zeigen, dass ihr Gluck liegt. Es war ein Vergnügen, sich von dem feinsinnigen, stilistisch ausgereiften Spiel des Orchesters verzaubern zu lassen. Was nicht heißen soll, dass die dramatischen Momente, von denen es ja viele gibt, zu kurz kamen. Spering gelang ein wunderbar pulsierendes, intensives Dirigat, das auch den Konzertchor Nürnberg Fürth (Leitung: Christian Martin Gabriel) zu engagierter Mitwirkung anspornte.
Eine so provokative Deutung konnte nicht allen gefallen. Bei der Premiere gab es bereits im ersten Teil heftige Proteste und Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum. Das war derart laut, dass die Aufführung für einen Augenblick gefährdet schien. Am Ende prallten enthusiastische Bravorufe auf den (kleiner gewordenen) Chor der Protestler. Ein fulminanter Opernabend, der einen noch lange danach beschäftigte!
Ein derart radikal umdeutendes Regiekonzept kann natürlich nur dann aufgehen, wenn die vier Sängerinnen, das Orchester und der Dirigent uneingeschränkt dahinterstehen. Das schien hier der Fall gewesen zu sein, denn sonst hätte diese Inszenierung nicht eine so ungewöhnliche, mitreißende Sogkraft entwickeln können. Auch wenn manches Detail in der Regie nicht gleich verständlich war, das Ganze fügte sich zu einem außergewöhnlich fesselnden Opernerlebnis, das niemanden unberührt ließ. Erstaunlich, dass Glucks Musik das alles trug, als sei sie für diese Handlung geschrieben worden.
Die Engländerin Anna Dennis war ein Paride von herausragenden Qualitäten. Ihr sinnlicher, in den Höhen leuchtender, ungemein geschmeidiger Sopran, der auch über samtene Tiefen verfügt, war wie geschaffen für die Rolle des unglücklich liebenden trojanischen Prinzen. Der leidgeprüften Helena verlieh die polnische Sopranistin Aleksandra Zamojska mehrere Gesichter. Zum einen gab sie sich als apathisch wirkendes Opfer, zum anderen versuchte sie, sich ihrer Haut zu wehren, sich reinzuwaschen. Ihrer kraftvollen, sehr ausdrucksstarken Stimme konnte sie eine facettenreiche Palette an Emotionen mühelos abverlangen. Auch der
Amor war mit der Russin Anna Grechishkina rollendeckend besetzt. Ihr hoher Sopran besaß die nötige Durchschlagskraft, um sich stets durchzusetzen. Und wenn sie Helena auf Russisch herumkommandierte und vorher mit einem gebieterischen Zeichen das Orchester zum Schweigen brachte, dann war das äußerst beeindruckend. Die kleine, aber für das Geschehen wichtige Rolle der Pallas Athene war ebenfalls mit einem Sopran, mit Christiane Oelze, besetzt - ein weiterer Glanzpunkt am Ende der Oper!
Die Staatsphilharmonie Nürnberg unter dem Alte-Musik-Spezialisten Andreas Spering konnte schon in der prachtvollen Ouvertüre zeigen, dass ihr Gluck liegt. Es war ein Vergnügen, sich von dem feinsinnigen, stilistisch ausgereiften Spiel des Orchesters verzaubern zu lassen. Was nicht heißen soll, dass die dramatischen Momente, von denen es ja viele gibt, zu kurz kamen. Spering gelang ein wunderbar pulsierendes, intensives Dirigat, das auch den Konzertchor Nürnberg Fürth (Leitung: Christian Martin Gabriel) zu engagierter Mitwirkung anspornte.
Eine so provokative Deutung konnte nicht allen gefallen. Bei der Premiere gab es bereits im ersten Teil heftige Proteste und Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum. Das war derart laut, dass die Aufführung für einen Augenblick gefährdet schien. Am Ende prallten enthusiastische Bravorufe auf den (kleiner gewordenen) Chor der Protestler. Ein fulminanter Opernabend, der einen noch lange danach beschäftigte!
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Nürnberger Nachrichten, 26. Juli 2014
Die verrückte Love-Story ist Vergangenheit
Sebastian Hirns konsequenter und rabiater Umgang mit „Paris und Helena“ bei den Gluck-Festspielen
von Uwe Mitsching
Sebastian Hirns konsequenter und rabiater Umgang mit „Paris und Helena“ bei den Gluck-Festspielen
von Uwe Mitsching
Für ihre Eigenproduktion „Paris und Helena“ haben sich die Internationalen Gluck Opernfestspiele viele Partner gesucht. Und für alle war es weitgehend Neuland: Das „Dramma per musica“ in fünf Akten von Raniero de’ Calzabigi, zu dem Christoph Willibald Gluck die Musik schrieb, im fast ausverkauften Nürnberger Opernhaus.
Das ist eine Gluck-Oper, seine letzte Reform-Oper, die kaum jemand kennt, die Regisseure mit spitzen Fingern anfassen. Und die man deswegen auch ganz anders erzählen kann, als bei der Uraufführung 1770 am Wiener Burgtheater - heute anders erzählen muss.
Sebastian Hirn, Luc-Bondy-Assistent mit Schlingensief-Frisur, inszeniert die Liebesgeschichte zwischen dem Trojanerprinzen und der Braut des Spartanerkönigs Menelaos vom tragischen Ende her: Der Raub der Helena, zehn Jahre Krieg, die Zerstörung Trojas liegen hinter uns; es geht nun um die Kriegsschuld.
Und ganz erstaunlich ist, wie gut allein schon die Ouvertüre mit Kriegsgeschmetter zu dieser 180- Grad-Wende passt. Oder der leere Bühnenraum: Kriegstrümmer liegen um den Orchestergraben herum und bis ins Parkett hinein, da sind verstreute Plastikteile und überall Wasser von den Löscharbeiten. Über dem Kronleuchter des Opernhauses hatte man zuvor in barocken Farben und per Video das Liebesgetändel von Paris und Helena im Schaumbad gesehen. Jetzt ist die verrückte Lovestory damals in Sparta Vergangenheit. Und ein armseliger Amor mit piepsiger Stimme sitzt zwischen den Wunden, die der Krieg geschlagen hat.
Mit dem Übertitel-Text stimmt die gespielte Handlung nicht mehr überein - aber wen kümmert das? Die paar Leute auf der Bühne sind sowieso psychisch deformiert - ihnen bleibt nur die Erinnerung und wunderschön tönende Einsamkeit.
Diesen überzeugenden Gedanken nimmt auch Andreas Spering mit der Staatsphilharmonie Nürnberg auf. Die hat in den zurückliegenden Festspielen bei Barockspezialisten interessante Gluck-Erfahrungen gesammelt. Und spielt jetzt eine haargenau passende gespannt-aggressive Lesart der Musik mit Trauerrand - mit schmerzhaften Pizzicati, während Amor die restlichen Plastikstühle zerschmeißt.
Auch das bewegende barocke Lamento des Paris gilt nicht mehr der schönsten Frau der Welt, seinem Göttinnen-Quiz-Preis Helena, sondern nur noch der Erinnerung: „Vor Angst sehe ich die Bilder der Lebensfreude verblassen“ (Paris).
Das ist eine Gluck-Oper, seine letzte Reform-Oper, die kaum jemand kennt, die Regisseure mit spitzen Fingern anfassen. Und die man deswegen auch ganz anders erzählen kann, als bei der Uraufführung 1770 am Wiener Burgtheater - heute anders erzählen muss.
Sebastian Hirn, Luc-Bondy-Assistent mit Schlingensief-Frisur, inszeniert die Liebesgeschichte zwischen dem Trojanerprinzen und der Braut des Spartanerkönigs Menelaos vom tragischen Ende her: Der Raub der Helena, zehn Jahre Krieg, die Zerstörung Trojas liegen hinter uns; es geht nun um die Kriegsschuld.
Und ganz erstaunlich ist, wie gut allein schon die Ouvertüre mit Kriegsgeschmetter zu dieser 180- Grad-Wende passt. Oder der leere Bühnenraum: Kriegstrümmer liegen um den Orchestergraben herum und bis ins Parkett hinein, da sind verstreute Plastikteile und überall Wasser von den Löscharbeiten. Über dem Kronleuchter des Opernhauses hatte man zuvor in barocken Farben und per Video das Liebesgetändel von Paris und Helena im Schaumbad gesehen. Jetzt ist die verrückte Lovestory damals in Sparta Vergangenheit. Und ein armseliger Amor mit piepsiger Stimme sitzt zwischen den Wunden, die der Krieg geschlagen hat.
Mit dem Übertitel-Text stimmt die gespielte Handlung nicht mehr überein - aber wen kümmert das? Die paar Leute auf der Bühne sind sowieso psychisch deformiert - ihnen bleibt nur die Erinnerung und wunderschön tönende Einsamkeit.
Diesen überzeugenden Gedanken nimmt auch Andreas Spering mit der Staatsphilharmonie Nürnberg auf. Die hat in den zurückliegenden Festspielen bei Barockspezialisten interessante Gluck-Erfahrungen gesammelt. Und spielt jetzt eine haargenau passende gespannt-aggressive Lesart der Musik mit Trauerrand - mit schmerzhaften Pizzicati, während Amor die restlichen Plastikstühle zerschmeißt.
Auch das bewegende barocke Lamento des Paris gilt nicht mehr der schönsten Frau der Welt, seinem Göttinnen-Quiz-Preis Helena, sondern nur noch der Erinnerung: „Vor Angst sehe ich die Bilder der Lebensfreude verblassen“ (Paris).
Alles „Süßliche“, das schon Wagner an Gluck gestört hatte, ist radikal eliminiert, das „glückliche Ende“ sowieso. Sebastian Hirn hat sein Kriegsende-Szenario zu Ende gedacht: Alle sind zurückgeworfen auf ihre Schuld - da kann die Göttin Pallas Athene (Christiane Oelze) eingreifen so viel sie will, sie hat ihre Rache fürs Paris-Urteil ja gehabt.
Im Abwassergraben ersäuft
Paris wird am Ende im Abwassergraben ersäuft, Helena bekommt ein neues Glitzerkleid, aber die Segel, die sie wieder nach Griechenland zurückbringen sollen, hängen als klatschnasse Lappen im Schnürboden.
Besonders Helena hat viel mitmachen müssen: blutige Striemen, zerrissen die Unterwäsche - das zeugt von Folter. Der Folter setzt Regisseur Him auch das Publikum durch seine Scheinwerfer-Orgien aus - und lässt zur Pause extra lang Zeit, bis der Eiserne Vorhang runtergeht, damit die Leute ihrem Unmut Luft machen können.
Doch ihm und seinem Dramaturgen Christian Baier ist eine Troja-Kehrt- wende von beeindruckender Stringenz gelungen. Die läuft spannend gekürzt in einer Endzeitwelt ab, deren Zutaten Hirn bei seinen Regie-Vätern gelernt und abgeschaut hat.
Orchester, Sänger, Bühne - alles binden er und Spering zu einer überzeugenden Einheit zusammen: Das tut dem alten Gluck gut. Kann aber nur durch großartige Sängerdarsteller gelingen.
Wie - allen voran - dem frenetisch umjubelten Paris von Anna Dennis, der Helena von Aleksandra Zamojska, die sich Hirns Waterboarding allzu ausführlich aussetzen muss und trotzdem mit barocker Emphase singt; dem aggressiven Amor, den Anna Grechishkina ohne alles Rokokohafte, dafür mit Otto-Waalkes-Grinsen gibt. Und selten hat man die durch eine Kriegsberichterstatterin zugespielten
Videos so stimmig gesehen wie hier. Sebastian Him ist konsequent und rabiat mit dieser Oper umgegangen - das Ergebnis gibt ihm Recht. Endlich gibt es wieder was zu diskutieren bei Gluck. Wie seinerzeit. Und Hirn hat beim Bravo/- Buh-Gewitter am Ende gut lachen.
Im Abwassergraben ersäuft
Paris wird am Ende im Abwassergraben ersäuft, Helena bekommt ein neues Glitzerkleid, aber die Segel, die sie wieder nach Griechenland zurückbringen sollen, hängen als klatschnasse Lappen im Schnürboden.
Besonders Helena hat viel mitmachen müssen: blutige Striemen, zerrissen die Unterwäsche - das zeugt von Folter. Der Folter setzt Regisseur Him auch das Publikum durch seine Scheinwerfer-Orgien aus - und lässt zur Pause extra lang Zeit, bis der Eiserne Vorhang runtergeht, damit die Leute ihrem Unmut Luft machen können.
Doch ihm und seinem Dramaturgen Christian Baier ist eine Troja-Kehrt- wende von beeindruckender Stringenz gelungen. Die läuft spannend gekürzt in einer Endzeitwelt ab, deren Zutaten Hirn bei seinen Regie-Vätern gelernt und abgeschaut hat.
Orchester, Sänger, Bühne - alles binden er und Spering zu einer überzeugenden Einheit zusammen: Das tut dem alten Gluck gut. Kann aber nur durch großartige Sängerdarsteller gelingen.
Wie - allen voran - dem frenetisch umjubelten Paris von Anna Dennis, der Helena von Aleksandra Zamojska, die sich Hirns Waterboarding allzu ausführlich aussetzen muss und trotzdem mit barocker Emphase singt; dem aggressiven Amor, den Anna Grechishkina ohne alles Rokokohafte, dafür mit Otto-Waalkes-Grinsen gibt. Und selten hat man die durch eine Kriegsberichterstatterin zugespielten
Videos so stimmig gesehen wie hier. Sebastian Him ist konsequent und rabiat mit dieser Oper umgegangen - das Ergebnis gibt ihm Recht. Endlich gibt es wieder was zu diskutieren bei Gluck. Wie seinerzeit. Und Hirn hat beim Bravo/- Buh-Gewitter am Ende gut lachen.
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Nordbayrischer Kurier, 29. Juli 2014
Kristallklar rein, emotional ergreifend: Anna Dennis als Paris
Himmelsglück und Höllenpein
„Paris und Helena“ bei den Internationalen Gluck-Opern-Festspielen
NÜRNBERG
von Frank Piontek
Himmelsglück und Höllenpein
„Paris und Helena“ bei den Internationalen Gluck-Opern-Festspielen
NÜRNBERG
von Frank Piontek
Am Anfang ist immer der Himmel. Am Beginn einer Liebesbeziehung befinden sich die Beteiligten immer ganz weit oben – und also schauen wir im Nürnberger Opernhaus ersteinmal, den Kopf weit im Nacken, auf die Decke und erblicken Paris und Helena: ziemlich nackt im Liebesspiel, über und über mit Schaum bedeckt.
Am Ende des bemerkenswerten Abends werden wir genug Wasser gesehen haben.
Die Sänger können einem leidtun, zwei Stunden lang haben sie sich durch die Wasserrinnen einer fast leeren, brutal kahlen Bühne gearbeitet, sich während ihrer Gesänge mit Wasser übergossen, wurden von Wärtern mit Wasser abgespritzt. Wenn Paris schließlich ersäuft wird, hat man’s nicht anders erwartet. Respekt also für Anna Dennis, die in Glucks und Sebastian Hirns Leidensdrama einen kristallkar reinen und emotional ergreifenden Paris, für Aleksandra Zamojska, die eine erschütternd gebrochene Helena, und für Anna Grechishkina, die einen abartig sadistischen Amor als Pervertierung des
Liebesprinzips auf die nasse Bühne gestellt haben. Christiane Oelze hat einen kurzen, prachtvollen Auftritt als Pallas Athene: eine Rachearie, bravourös gebracht.
Ist Glucks Festoper, die anlässlich einer kaiserlichen Hochzeit komponiert wurde, ein Trauerspiel? Da doch, nach fünf Akten, in denen es nur darum geht, wie der trojanische Prinz die spartanische Schönheit quasi herumkriegt, am Ende ein fast typisches Happy End samt Jubelchor steht? Hier aber ist der
Trojanische Krieg schon zu Ende, stehen die Liebenden, um derentwillen ein vernichtender Krieg vonstatten ging, vor einem Tribunal, in dem sie Farbe bekennen müssen: Haben sie sich geliebt oder nicht? Die Vergangenheit wird zur Gegenwart wird zur Vergangenheit – doch wird sie nur gespielt?
Am Ende des bemerkenswerten Abends werden wir genug Wasser gesehen haben.
Die Sänger können einem leidtun, zwei Stunden lang haben sie sich durch die Wasserrinnen einer fast leeren, brutal kahlen Bühne gearbeitet, sich während ihrer Gesänge mit Wasser übergossen, wurden von Wärtern mit Wasser abgespritzt. Wenn Paris schließlich ersäuft wird, hat man’s nicht anders erwartet. Respekt also für Anna Dennis, die in Glucks und Sebastian Hirns Leidensdrama einen kristallkar reinen und emotional ergreifenden Paris, für Aleksandra Zamojska, die eine erschütternd gebrochene Helena, und für Anna Grechishkina, die einen abartig sadistischen Amor als Pervertierung des
Liebesprinzips auf die nasse Bühne gestellt haben. Christiane Oelze hat einen kurzen, prachtvollen Auftritt als Pallas Athene: eine Rachearie, bravourös gebracht.
Ist Glucks Festoper, die anlässlich einer kaiserlichen Hochzeit komponiert wurde, ein Trauerspiel? Da doch, nach fünf Akten, in denen es nur darum geht, wie der trojanische Prinz die spartanische Schönheit quasi herumkriegt, am Ende ein fast typisches Happy End samt Jubelchor steht? Hier aber ist der
Trojanische Krieg schon zu Ende, stehen die Liebenden, um derentwillen ein vernichtender Krieg vonstatten ging, vor einem Tribunal, in dem sie Farbe bekennen müssen: Haben sie sich geliebt oder nicht? Die Vergangenheit wird zur Gegenwart wird zur Vergangenheit – doch wird sie nur gespielt?
Für Paris, den Empfindsamen, und Helena, die zunächst ganz und gar spartanische, ist es kein Verhörspiel – hier geht es um Leben und Tod. Allein: Sperrt sich nicht Glucks zärtlich-empfindsame Musik gegen diese radikale Deutung?
Eines der Wunder dieses nicht „schönen“, doch spannenden und ergreifenden Abends besteht darin, dass sich (abgesehen vom Schlusschor) kaum eine Verszeile, kaum eine Note gegen die brutale Deutung dieses avancierten Regietheaters sträubt. Die Musik des amourösen Leidens erhält plötzlich eine andere, geradezu verzweifelte Tiefe, die die Dignität von Glucks Menschen und Musiktheater belegt. Die „bitteren Schmerzen“ und das „Reich des Todes“ werden ihrer latenten Floskelhaftigkeit beraubt, die Unkonventionalität, die Gluck der Helena zumaß, erhält in der Kehle der exzellenten Sopranistin einen realistischen Widerhall.
Hier wird nicht der Schöngesang gepflegt, hier entäußert sich die singende Darstellerin Aleksandra Zamojska alias Helena ihrer Gefühle, indem sie ganz bewusst in den gutturalen, expressiven, in den Sprechgesang changierenden Vokalstil gleitet. So singt frau eben, wenn Gott Amor mit der gezogenen Pistole neben einem steht – ein Gott, der vielleicht mehr Unglück als Glück angerichtet hat.
Die Staatsphilharmonie spielt unter Andreas Spering einen historisch informierten, in den Streichern delikaten, in den Hörnern krassen, in den Holzbläsern süssen wie schmerzhaften Ton heraus, der die rechte Begleitmusik zur Szene gibt. Die Liebe in Zeiten des Krieges: sie kann so klingen, sie muss so aussehen.
Troja ist nicht von gestern, Gluck ist immer von heute: diese Lehre konnte das begeisterte Publikum aus der Neuinterpretation des zu selten gespielten Meisterwerks ziehen.
Eines der Wunder dieses nicht „schönen“, doch spannenden und ergreifenden Abends besteht darin, dass sich (abgesehen vom Schlusschor) kaum eine Verszeile, kaum eine Note gegen die brutale Deutung dieses avancierten Regietheaters sträubt. Die Musik des amourösen Leidens erhält plötzlich eine andere, geradezu verzweifelte Tiefe, die die Dignität von Glucks Menschen und Musiktheater belegt. Die „bitteren Schmerzen“ und das „Reich des Todes“ werden ihrer latenten Floskelhaftigkeit beraubt, die Unkonventionalität, die Gluck der Helena zumaß, erhält in der Kehle der exzellenten Sopranistin einen realistischen Widerhall.
Hier wird nicht der Schöngesang gepflegt, hier entäußert sich die singende Darstellerin Aleksandra Zamojska alias Helena ihrer Gefühle, indem sie ganz bewusst in den gutturalen, expressiven, in den Sprechgesang changierenden Vokalstil gleitet. So singt frau eben, wenn Gott Amor mit der gezogenen Pistole neben einem steht – ein Gott, der vielleicht mehr Unglück als Glück angerichtet hat.
Die Staatsphilharmonie spielt unter Andreas Spering einen historisch informierten, in den Streichern delikaten, in den Hörnern krassen, in den Holzbläsern süssen wie schmerzhaften Ton heraus, der die rechte Begleitmusik zur Szene gibt. Die Liebe in Zeiten des Krieges: sie kann so klingen, sie muss so aussehen.
Troja ist nicht von gestern, Gluck ist immer von heute: diese Lehre konnte das begeisterte Publikum aus der Neuinterpretation des zu selten gespielten Meisterwerks ziehen.
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Opernwelt 9/10 September/Oktober 2014
SCHONUNGSLOS
Gluck: Paride ed Elena Nürnberg / Opernhaus
von Uwe Schweikert
Gluck: Paride ed Elena Nürnberg / Opernhaus
von Uwe Schweikert
Die Internationalen Gluck-Opern- Festspiele hat 2005 der damalige Nürnberger Intendant Wulf
Konold ins Leben gerufen. Im Gluck-Jahr 2014 fanden sie zum fünften Mal statt, jetzt unter der neuen Trägerschaft einer Festspiel GmbH. Der Opernreformer selbst war im Programm mit einer konzertanten Aufführung von «Iphigenie in Aulis» in der Bearbeitung Richard Wagners sowie einer Produktion des Landestheaters Coburg vertreten, die den Wiener «Orfeo» mit Gustav Holsts themengleichem Einakter «Savitri» koppelt. Ergänzt wurde das Spektrum mit der «Ifigenia in Tauride» des Gluck-Zeitgenossen Tommaso Traetta, einem Gastspiel des Theaters Heidelberg (siehe OW 2/2014). Das Hauptinteresse allerdings galt der Eigenproduktion von Glucks letzter, 1770 für Wien entstandener Reformoper «Paride ed Elena».
Das hundert Jahre vor Wagners «Tristan» amoralisch die Liebe feiernde Werk gilt als spröde, ja missglückt und findet kaum je den Weg auf die Bühne. Zwar hatte der große Psychologe Gluck mit musikalischen Mitteln versucht, gegensätzliche Charaktere zu gestalten. Doch von dieser kühnen Innenschau, die die verhängnisvolle, für den Ausbruch des Trojanischen Kriegs verantwortliche Liebe des sinnenfreudigen Trojaners Paris zur herben Spartanerin Elena grundiert, ist selbst in der Gesamtaufnahme unter Paul McCreesh wenig zu spüren. Hier kann nur die Bühne helfen.
Die Inszenierung des jungen Regisseurs Sebastian Hirn tut dies mit drastischen Mitteln: einem Angriff auf alle Sinne. Unter der Glätte von Glucks klassizistischer Kontur, die für die Zeitgenossen noch barbarisch und überspannt klang, legt er ein elementares Drama menschlicher Emotionen und deren zerstörerische Folgen frei. Das lässt die Partitur nicht ungeschoren, fallen doch alle Ballette und ein Teil der Rezitative dem Rotstift zum Opfer. Die bei Gluck vor dem Trojanischen Krieg spielende Handlung verlegt er an dessen Ende. Er zeigt die nackte, bis an die Brandmauern offene Bühne, auf der sich Wassergräben mit festem Boden abwechseln. Überall liegen Plastikstühle herum, der Orchestergraben ist mit Metallgittern bedeckt. Schräg von oben hängt eine Lichtleiste herab, deren aggressives Licht unmittelbar vor der Pause fast zu einem Aufstand im Zuschauerraum führt.
Konold ins Leben gerufen. Im Gluck-Jahr 2014 fanden sie zum fünften Mal statt, jetzt unter der neuen Trägerschaft einer Festspiel GmbH. Der Opernreformer selbst war im Programm mit einer konzertanten Aufführung von «Iphigenie in Aulis» in der Bearbeitung Richard Wagners sowie einer Produktion des Landestheaters Coburg vertreten, die den Wiener «Orfeo» mit Gustav Holsts themengleichem Einakter «Savitri» koppelt. Ergänzt wurde das Spektrum mit der «Ifigenia in Tauride» des Gluck-Zeitgenossen Tommaso Traetta, einem Gastspiel des Theaters Heidelberg (siehe OW 2/2014). Das Hauptinteresse allerdings galt der Eigenproduktion von Glucks letzter, 1770 für Wien entstandener Reformoper «Paride ed Elena».
Das hundert Jahre vor Wagners «Tristan» amoralisch die Liebe feiernde Werk gilt als spröde, ja missglückt und findet kaum je den Weg auf die Bühne. Zwar hatte der große Psychologe Gluck mit musikalischen Mitteln versucht, gegensätzliche Charaktere zu gestalten. Doch von dieser kühnen Innenschau, die die verhängnisvolle, für den Ausbruch des Trojanischen Kriegs verantwortliche Liebe des sinnenfreudigen Trojaners Paris zur herben Spartanerin Elena grundiert, ist selbst in der Gesamtaufnahme unter Paul McCreesh wenig zu spüren. Hier kann nur die Bühne helfen.
Die Inszenierung des jungen Regisseurs Sebastian Hirn tut dies mit drastischen Mitteln: einem Angriff auf alle Sinne. Unter der Glätte von Glucks klassizistischer Kontur, die für die Zeitgenossen noch barbarisch und überspannt klang, legt er ein elementares Drama menschlicher Emotionen und deren zerstörerische Folgen frei. Das lässt die Partitur nicht ungeschoren, fallen doch alle Ballette und ein Teil der Rezitative dem Rotstift zum Opfer. Die bei Gluck vor dem Trojanischen Krieg spielende Handlung verlegt er an dessen Ende. Er zeigt die nackte, bis an die Brandmauern offene Bühne, auf der sich Wassergräben mit festem Boden abwechseln. Überall liegen Plastikstühle herum, der Orchestergraben ist mit Metallgittern bedeckt. Schräg von oben hängt eine Lichtleiste herab, deren aggressives Licht unmittelbar vor der Pause fast zu einem Aufstand im Zuschauerraum führt.
Nach der Ouvertüre lösen sich Paris, Helena und Amor - der zusammen mit vier Soldaten das Tribunal der Sieger verkörpert, vor dem das Liebespaar sich verantworten muss - vom Bühnenboden, und das grausame Spiel der Erinnerung beginnt.
Die Aktionen, denen Hirn seine beiden Protagonisten aussetzt, sind, zur Empörung vieler Zuschauer, radikal - radikal verstörend. Immer wieder wird das desorientierte, wie unter Drogen über die Bühne stolpernde Liebespaar von den Soldaten angegriffen, vergewaltigt, unter Wasser gedrückt. Das geht nicht ohne Aktionismus ab. Aber stets bleibt deutlich, dass die Re-Inszenierung ihrer ehemaligen Gefühle im Bewusstsein der kriegerischen Katastrophe geschieht. Die Psyche wird zum Schlachtfeld, der Körper zum Einfallstor der seelischen Verletzungen. Hirn schont dabei weder die Darsteller noch die Zuschauer, denen das beklemmende Spiel von Anna Dennis und Aleksandra Zamojska unter die Haut geht. Dennis’ gesanglich glänzender Paris bewahrt sich noch einen Rest männlicher Überlegenheit, während Zamojska die wie ein Flittchen in Unterwäsche auftretende Helena als tief traumatisierte Frau darstellt. Ihr mit der (sonst nicht immer sinnvoll eingesetzten) Live-Cam an die Rückwand projiziertes Gesicht spricht Bände - am berührendsten, wenn Paris seine Arie «Di te scordarmi» singt und wir die Wirkung der Musik im bis zur Selbstentwürdigung reichenden Mienenspiel Helenas in Großaufnahme verfolgen.
Zamojska macht die seelische Verfasstheit Helenas aber auch hörbar, wenn sie weder vor dem Absacken des Tons noch vor dem ausbrechenden Schrei zurückschreckt und damit Glucks Bekenntnis aus seinem Vorwort zu «Paride ed Elena» folgt, «dass der Gesang in einer Oper ... eben nichts ist als der Stellvertreter der Deklamation.» Gefällig ist das nicht, aber es gräbt sich tief ein und beschwört jene Wahrheit, um die es dem Musikdramatiker Gluck einzig ging. Auch die übrigen Mitwirkenden - Anna Grechishkina als Amor, Christiane Oelze in ihrem Kurzauftritt als den Krieg prophezeiende Pallas
Athene sowie die von Andreas Spering auf ein historisch geschärftes Spiel eingeschworene Staatsphilharmonie Nürnberg - überzeugten: Das Experiment, Glucks selten gespielte Oper zu theatralem Leben zu erwecken, gelang.
Die Aktionen, denen Hirn seine beiden Protagonisten aussetzt, sind, zur Empörung vieler Zuschauer, radikal - radikal verstörend. Immer wieder wird das desorientierte, wie unter Drogen über die Bühne stolpernde Liebespaar von den Soldaten angegriffen, vergewaltigt, unter Wasser gedrückt. Das geht nicht ohne Aktionismus ab. Aber stets bleibt deutlich, dass die Re-Inszenierung ihrer ehemaligen Gefühle im Bewusstsein der kriegerischen Katastrophe geschieht. Die Psyche wird zum Schlachtfeld, der Körper zum Einfallstor der seelischen Verletzungen. Hirn schont dabei weder die Darsteller noch die Zuschauer, denen das beklemmende Spiel von Anna Dennis und Aleksandra Zamojska unter die Haut geht. Dennis’ gesanglich glänzender Paris bewahrt sich noch einen Rest männlicher Überlegenheit, während Zamojska die wie ein Flittchen in Unterwäsche auftretende Helena als tief traumatisierte Frau darstellt. Ihr mit der (sonst nicht immer sinnvoll eingesetzten) Live-Cam an die Rückwand projiziertes Gesicht spricht Bände - am berührendsten, wenn Paris seine Arie «Di te scordarmi» singt und wir die Wirkung der Musik im bis zur Selbstentwürdigung reichenden Mienenspiel Helenas in Großaufnahme verfolgen.
Zamojska macht die seelische Verfasstheit Helenas aber auch hörbar, wenn sie weder vor dem Absacken des Tons noch vor dem ausbrechenden Schrei zurückschreckt und damit Glucks Bekenntnis aus seinem Vorwort zu «Paride ed Elena» folgt, «dass der Gesang in einer Oper ... eben nichts ist als der Stellvertreter der Deklamation.» Gefällig ist das nicht, aber es gräbt sich tief ein und beschwört jene Wahrheit, um die es dem Musikdramatiker Gluck einzig ging. Auch die übrigen Mitwirkenden - Anna Grechishkina als Amor, Christiane Oelze in ihrem Kurzauftritt als den Krieg prophezeiende Pallas
Athene sowie die von Andreas Spering auf ein historisch geschärftes Spiel eingeschworene Staatsphilharmonie Nürnberg - überzeugten: Das Experiment, Glucks selten gespielte Oper zu theatralem Leben zu erwecken, gelang.
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Klassikinfo, 26. Juli 2014
Opernkritik: Gluck-Festspiele
Amour fou
Regisseur Sebastian Hirn und Dirigent Andreas Spering entdecken „Paride ed Elena“ bei den Gluck-Festspielen in Nürnberg
von Klaus Kalchschmid
Amour fou
Regisseur Sebastian Hirn und Dirigent Andreas Spering entdecken „Paride ed Elena“ bei den Gluck-Festspielen in Nürnberg
von Klaus Kalchschmid
(Nürnberg, 26. Juli 2014) - Nach der Pause, als der eiserne Vorhang wieder hochging und erneut eine fast leere Bühne zeigte, die eine karge, verwüstete Landschaft der Zerstörung und ebenso verletzte, gefolterte Menschen offenbarte, erfolgte doch noch der unbeholfene Versuch die Aufführung zu stören - wie bei der Premiere zwei Tage zuvor. Aber der mehrheitliche große Beifall für einen ungemein spannenden Opernabend, der unter die Haut ging, brachte das kleine Häuflein Protestler zum Schweigen.
Auf dem Programm stand „Paride ed Elena“, die äußerst selten aufgeführte, vielleicht kühnste Reformoper Glucks, die zwischen Alceste (1767) und Iphigenie en Aulide (1774) für das Burgtheater in Wien 1770 entstand. In der konzentrierten, kaum mehr als anderthalbstündigen Fassung, die Regisseur Sebastian Hirn, sein Dramaturg Christian Beier und Andreas Spering am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg erstellt haben, hat der trojanische Krieg bereits stattgefunden, den die Liebe vor Paris und Helena ausgelöst hat. Und nun müssen sie im zerstörten Königspalast von Troja, in dem sich bunte Plastikstühle stapeln, vor den brandschatzenden Siegern rechtfertigen, was seinerzeit geschah, als alles begann. Wenn also gefilmt und im Hintergrund auf Großleinwand die Gesichter überlebensgroß gezeigt werden, dann dient das der Dokumentation für einen imaginären Prozess - und es ist so gut gemacht und zwingend, dass es nie störend, sondern immer als Bereicherung empfunden wird.
Doch Hirn lässt vieles offen. Was er auf der von ihm selbst gestalteten Bühne zeigt, die über den Orchestergraben bis an die erste Reihe heranreicht, ist unmittelbar sinnlich brutal und deutet doch oft nur an - wie schon während der Ouvertüre, wenn auf die Decke des Opernhauses projiziert die in einem Wölkenkuckucksheim delirienden Liebenden gezeigt werden - als irreales Schaumbad. Und weil vier Soprane singen - auch Paris, in der Uraufführung ein Soprankastrat, wird in Nürnberg von einer Frau dargestellt - sind auch die Soldaten - oft in Zeitlupe agierende Tänzer oder Statisten - weiblich:
Auf dem Programm stand „Paride ed Elena“, die äußerst selten aufgeführte, vielleicht kühnste Reformoper Glucks, die zwischen Alceste (1767) und Iphigenie en Aulide (1774) für das Burgtheater in Wien 1770 entstand. In der konzentrierten, kaum mehr als anderthalbstündigen Fassung, die Regisseur Sebastian Hirn, sein Dramaturg Christian Beier und Andreas Spering am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg erstellt haben, hat der trojanische Krieg bereits stattgefunden, den die Liebe vor Paris und Helena ausgelöst hat. Und nun müssen sie im zerstörten Königspalast von Troja, in dem sich bunte Plastikstühle stapeln, vor den brandschatzenden Siegern rechtfertigen, was seinerzeit geschah, als alles begann. Wenn also gefilmt und im Hintergrund auf Großleinwand die Gesichter überlebensgroß gezeigt werden, dann dient das der Dokumentation für einen imaginären Prozess - und es ist so gut gemacht und zwingend, dass es nie störend, sondern immer als Bereicherung empfunden wird.
Doch Hirn lässt vieles offen. Was er auf der von ihm selbst gestalteten Bühne zeigt, die über den Orchestergraben bis an die erste Reihe heranreicht, ist unmittelbar sinnlich brutal und deutet doch oft nur an - wie schon während der Ouvertüre, wenn auf die Decke des Opernhauses projiziert die in einem Wölkenkuckucksheim delirienden Liebenden gezeigt werden - als irreales Schaumbad. Und weil vier Soprane singen - auch Paris, in der Uraufführung ein Soprankastrat, wird in Nürnberg von einer Frau dargestellt - sind auch die Soldaten - oft in Zeitlupe agierende Tänzer oder Statisten - weiblich:
bis auf einen Mann, der die verschlagene glatzköpfige Physiognomie von Jürgen Vogel besitzt und als Anführer der Griechen und ihres Tribunals gedeutet werden könnte. Physische Gewalt üben aber vor allem die Frauen in ihren Tarnanzügen aus.
Haupt- und eigentlich einzige Handlung ist und bleibt das äußerst hartnäckige, die Grezen jeder Vernunft sprengende Werben von Paris (Anna Dennis) um Helena (Aleksandra Zamojska), das auf hinterhältige Weise von Amor (Anna Grechishkina) angestachelt und am Ende von Pallas Athene (Christiane Oelze) doch noch hintertrieben wird. WIE das von Sebastian Hirn inszeniert wird, WIE die Sängerinnen sich in ihre Partien mit ungeheurer Ausdrucksmacht musikalisch und szenisch werfen, wie sie im Wasser waten, sich mit Wasser begießen oder abgespritzt werden, wie aus der schließlich doch aufbrechenden Zuneigung eine verzweifelte amour fou wird, bei deren kurzer Besiegelung mit einem Kuss Paris wie Helena bewusst wird, was sie damit auslösen: das ist Musik-Theater at its best. Es wird von Dirigent und Orchester grandios unterstützt, weil sie die Szene ergänzen mit ebenso plastischer wie wahrhaftiger Prägnanz, die der beinahe durchkomponierten Musik Glucks, in der Arie, Arioso und Rezitativo accompagnato unvermittelt wechseln, sich überlagern ebenso rundes wie scharfes Profil geben: Aus entäußerndem Solo-Gesang wird da ein Duett und schließlich ein Ensemble, oder plötzlich rufen Chöre aus den Proszeniumslogen dazwischen.
Grandios theatralisch umgesetzt wird, wie Helena versucht, sich rechtzufertigen und sich dabei doch immer mehr verstrickt, bis sie als Verräterin in ihre Heimat zurückkehren muss; wie Paris immer mehr dem Wahnsinn verfällt, bis er schließlich eigenhändig von Amor gerichtet und mit dem gelben Segeltuch erwürgt wird, das am Ende an der universal verwendbaren Scheinwerfer-Batterie im Zentrum der Bühne in den Schnürboden fährt - als höhnisches Symbol für die Abreise der Liebenden, die noch einmal beschworen, aber nie wieder stattfinden wird.
Haupt- und eigentlich einzige Handlung ist und bleibt das äußerst hartnäckige, die Grezen jeder Vernunft sprengende Werben von Paris (Anna Dennis) um Helena (Aleksandra Zamojska), das auf hinterhältige Weise von Amor (Anna Grechishkina) angestachelt und am Ende von Pallas Athene (Christiane Oelze) doch noch hintertrieben wird. WIE das von Sebastian Hirn inszeniert wird, WIE die Sängerinnen sich in ihre Partien mit ungeheurer Ausdrucksmacht musikalisch und szenisch werfen, wie sie im Wasser waten, sich mit Wasser begießen oder abgespritzt werden, wie aus der schließlich doch aufbrechenden Zuneigung eine verzweifelte amour fou wird, bei deren kurzer Besiegelung mit einem Kuss Paris wie Helena bewusst wird, was sie damit auslösen: das ist Musik-Theater at its best. Es wird von Dirigent und Orchester grandios unterstützt, weil sie die Szene ergänzen mit ebenso plastischer wie wahrhaftiger Prägnanz, die der beinahe durchkomponierten Musik Glucks, in der Arie, Arioso und Rezitativo accompagnato unvermittelt wechseln, sich überlagern ebenso rundes wie scharfes Profil geben: Aus entäußerndem Solo-Gesang wird da ein Duett und schließlich ein Ensemble, oder plötzlich rufen Chöre aus den Proszeniumslogen dazwischen.
Grandios theatralisch umgesetzt wird, wie Helena versucht, sich rechtzufertigen und sich dabei doch immer mehr verstrickt, bis sie als Verräterin in ihre Heimat zurückkehren muss; wie Paris immer mehr dem Wahnsinn verfällt, bis er schließlich eigenhändig von Amor gerichtet und mit dem gelben Segeltuch erwürgt wird, das am Ende an der universal verwendbaren Scheinwerfer-Batterie im Zentrum der Bühne in den Schnürboden fährt - als höhnisches Symbol für die Abreise der Liebenden, die noch einmal beschworen, aber nie wieder stattfinden wird.
Kritik einer Inszenierung bei den Gluckopernfestspielen an der Oper Nürnberg
Süddeutsche Zeitung, 23. Dezember 2014
Unabdingbar
Ein gutes Jahr für die Oper
von Egbert Tholl
Ein gutes Jahr für die Oper
von Egbert Tholl
Man muss nicht verzweifeln, der Oper geht’s gut. Zwar pflegen einige der großen Häuser eine ästhetische Konsolidierung auf hohem Niveau, aber dennoch gab es in diesem Jahr einige Produktionen, die in ihrer Radikalität und mit ihrer musikalischen wie inszenatorischen Unabdingbarkeit aufzeigten, was im Musiktheater möglich ist, ja möglich sein soll. Die „Soldaten“ in München zählen dazu, der gnadenlose Seelenexpressionismus des Stuttgarter „Jakob Lenz“ oder auch Glucks „Paris und Helena“, in Nürnberg von Sebastian Hirn dermaßen radikalisiert, dass es bei den Gluck-Opernfestspielen fast zu einer Saalschlacht gekommen wäre.
Die genannten Aufführungen loteten mit hoher Könnerschaft den Gehalt der Werke aus, blieben aber im Rahmen der Konvention, im Falle von Hirn so gerade eben noch.
Die genannten Aufführungen loteten mit hoher Könnerschaft den Gehalt der Werke aus, blieben aber im Rahmen der Konvention, im Falle von Hirn so gerade eben noch.
Daneben konnte man zwei Regisseure erleben, die eine Opernaufführung ganz grundsätzlich anders denken, Benedikt von Peter und Romeo Castellucci. Peter krempelt schon seit einigen Jahren Opern um, stellt das Orchester gern auf die Bühne und die weniger wichtigen Sänger in den Zuschauerraum. Auch wenn er dabei schon glückhafter ans Werk ging als bei seinen „Meistersingern“ in Bremen: Die das ganze Haus ausfüllende Kissenschlacht zur Prügelfuge war eine Freude. Castellucci geht noch weiter und begreift Oper als das Leben selbst. So konnte er bei seinem Wiener „Orpheus“ auf alles verzichten, was gemeinhin zur Opernregie gehört und ein echtes Schicksal untrennbar mit Glucks Werk verknüpfen. Fabelhaft. Und ein Weg in die Zukunft.