Kritiken Theater, Oper, Ausstellungen, Installationen




La morte di Abele, Retz, 05.07. 2024

NÖN.at. Hollabrunn. Uraufführung in Retz


Adam watet im Blut, Eva macht die Kirche sauber


von Christian Pfeiffer
Es war eine sichere Bank und ein Risiko zugleich, das von Intendant Christian Baier für seinen Einstand angesetzte Stück beim heurigen Festival Retz. Sicher, weil es die Tradition der „Kirchenoper“ des Festivals mit „Kain und Abel“ fortführt; aber auch riskant, weil es um modernes Musiktheater geht.

Regisseur Sebastian Hirn hatte bei der Soiree zu „Kain und Abel“ vom Barockkomponisten Leonardo Leo nicht zu viel versprochen, als er ankündigte, dass man an einen Tatort käme, wenn man die Stadtpfarrkirche St. Stephan betritt. So war es dann auch bei der Premiere dieses weltweit erstmals szenisch aufgeführten Oratoriums. Überall auf dem Weg zu den Plätzen waren Tatortmarkierungen, wie man sie aus Krimis kennt, platziert. Eine Frau - Eva – macht mit dem Staubsauger sauber.

Der Beginn war eine Art Prolog, in dem interpretatorisch alles aufblitzte, was die Inszenierung tragen sollte. Denn neben Eva als Putzfrau, die im übertragenen Sinne den Dreck ihrer Familie wegsaugt, ist auch Kain schon präsent. Er vergnügt sich mit seinem Stofftier-Safaripark. Der Vater - Adam - glänzt durch Abwesenheit. Abel ist bereits tot - hier hat ein Verbrechen stattgefunden. Somit lässt Regisseur Hirn die Geschichte retrospektiv ablaufen.

Die Bühne ist neben der Unmenge an Plüschtieren mit Blumen und Kerzen arrangiert, als gälte es dem Opfer eines Attentats - Abel - zu gedenken. Die Rolle des Abel ist in Retz mit einer Frau - Eldrid Gorset, sehr feinfühlig in ihrer Rollengestaltung - besetzt. Das ist einerseits der Stimmlage geschuldet, ergibt aber andererseits ein interessantes Gedankenspiel. Obwohl kostümtechnisch eher androgyn angelegt, drängt sich die Frage auf: Würde die Ermordung der Schwester einen Unterschied machen?

Mit Assoziationen spielt Hirn in seiner Inszenierung auf vielen Ebenen. Er zeichnet Kain und Abel als verwöhnte, trotzige Kinder, wobei Abel meist nachgibt und damit als Klügerer dasteht. Adam - zum Fürchten autoritär: Nikita Ivasechko - betrachtet seine Familie patriarchal von der Kanzel aus. Voller Symbolik auch die Szene, als Abel die Kerzen anzündet, als wüsste er um sein weiteres Schicksal, und Kain - von Markus Bjorlikke als zutiefst zerrissener Mensch gestaltet - diese umgehend ausbläst.

Daraufhin macht sich die Friedenstaube auf dem Altarbild, das den heiligen Stephan zeigt - den ersten Märtyrer des Christentums -, auf und davon. Der Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold, die für die Verwandlung des Altarbildes verantwortlich zeichnet, ist eine perfekte Illusion gelungen. Nichts hätte zunächst darauf hingewiesen, dass es nicht das originale Altarbild wäre. Immer mehr verwandelte es sich, bis zuerst Jesus und dann auch St. Stephan
verschwunden waren.

Übrig blieben eine karge Landschaft und eine dräuende Gewitterwolke. Derweil hat Adam, dessen Mitschuld an dem Mord in Form von Blut bereits von Anfang an an seinen Gummistiefeln haftet, Abel wie eine überladene Madonnenstatue ausgestattet. Was folgt ist ein choreografiertes Marionettenspiel ermahnender, strenger, warnender und einladender Gesten. Eva - in jeder Hinsicht aufopferungsvoll: Cornelia Sonnleithner - versucht immer wieder, zwischen Adam und den Kindern zu vermitteln.
Erfolglos, wie man weiß. Nachdem Kain den Entschluss gefasst hat, Abel zu töten, wechselt das „Bühnenbild“ am Altar. Ab jetzt ist ein schier unendlicher Trauerzug samt Leiche zu sehen, der in einer Höhle - dem Erlebniskeller - beginnt. Den Film dazu drehte Aebersold mit 105 Retzern bereits im Frühjahr. Nach und nach schließen sich alle der Prozession an, zum Beispiel auch eine Bäckerin und drei Herren, die gerade noch beim letzten Abendmahl saßen. Irgendwann erreichen die Trauernden ihr Ziel und heben ein Grab aus. Das ist in dem Moment zu sehen, da Abel sich entschließt, mit Kain aufs Feld zu gehen, obwohl ihm sein Inneres sagt: „Tu's nicht.“ Die Inszenierung ist der Geschichte immer ein Stück weit voraus, womit sie zu einer unvermeidlichen wird. Eva erkennt ihren Teil der Schuld an der Katastrophe, versucht, sie verzweifelt von sich wischen. Da geht es Adam pragmatischer an. Er putzt sich wortwörtlich an Eva ab.

Und so geht jeder sehr eigen mit dem Geschehenen um. Kain robbt zur Buße durch den Kirchengang, um sich später in einen Teddybärmantel zu hüllen - zurück in die Kinderstube der Menschheit. Eva umwickelt Rosen mit einem Draht und bastelt sich ihre ganz eigene Dornenkrone. Sie bleibt als gebrochene Frau zurück. Und Adam? Der erniedrigt Eva, gibt ihr die Schuld an allem und lässt sie im Stich. Da kommen einem schon Zweifel, was Gott sich dachte, als er den Menschen erschuf.



Moderne, zupackende Inszenierung einhellig - und hochverdient - bejubelt

Spannend war, abgesehen vom Bühnengeschehen, wie das Publikum diese moderne, zupackende Inszenierung aufnehmen würde. Wie einhellig sich nach dem letzten Ton die Begeisterung der Zuschauer Bahn brach, war doch ein wenig überraschend - wiewohl hochverdient. Jubel und Bravos für die Solisten, aber nicht nur für diese. Viel Begeisterung löste auch der Musikalische Leiter Luca De Marchi samt dem Ensemble Continuum Wien sowie dem Chor aus.

Und auch das Regieteam wurde mit reichlich Applaus bedacht, der sich bis zur Standing Ovation steigerte. Pfarrer Clemens Beirer schien vom Zauber der Verwandlung „seines“ Altarbildes ganz angetan und Helga Rabl-Stadler ehrlich beeindruckt von dem eben Gesehenen und Gehörten.

Empfohlen sei für die jeweiligen Folgevorstellungen die Einführung im Bürgersaal um 18.45 Uhr bei freiem Eintritt. Intendant Christian Baier hat sich in seinem ersten Jahr mutig gezeigt - und Mut wird doch oft belohnt.








Der Standard

OPER

Retzer Oratorium zum Brudermord
Der neue Intendant der Festspiele Retz, Christian Baier, bringt als österreichische Erstaufführung Leonardo Leos "La Morte di Abele" in hoher Qualität

von Ljubiša Tošić, 9. Juli 2024

Das Oratorium als solches ist nicht unbedingt erschaffen worden, um szenische Hyperaktivität auszustrahlen. Auf der Suche nach inspirierender Abwechslung begannen allerdings Opernhäuser und Festivals vor einigen Jahren, diese altehrwürdige Form sehr gerne in Regiehände zu legen, damit etwa Könner wie Claus Guth oder Christof Loy die jeweils sakralen Geschichten zu agilem Musiktheater formen.

Das Festival Retz tut es auch und hat es insofern leicht, als die Stadtpfarrkirche St. Stephan mit ihrem Innencharme ein schillerndes Bühnenbild per se abgibt, das Leonardo Leos Oratorium La Morte di Abele atmosphärisch entgegenkommt. Elegant und behutsam wird die Energie des Raumes, die ästhetische Dichte der optischen Rahmenbedingungen gestalterisch integriert. Zudem wird der zentrale Blickfang, das Altarbild, von Animationsfilmerin Nicole Aebersold einer Metamorphose unterzogen.

Form der Tatortsicherung

Während das ausgezeichnete Vokalquartett – Eldrid Gorset als Abel, Cornelia Sonnleitner als Eva,Markus Bjorlikke als Kain und Nikita
Ivasechko als Adam – die in Leos La Morte di Abele eingefasste Geschichte von Kain und Abel intensiv durchleidet, wandelt sich das Bild nach und nach. Wolken verdüstern sich, eine Taube fliegen hinweg. Und als eine Art Karussell der Trauer zieht ein Prozessionszug (100 Retzerinnen und Retzer), der einen Toten trägt, gleichsam durch das Altarbild.

Die Inszenierung von Sebastian Hirn bezieht dieses filmische Geschehen ebenso ein wie den Kirchenraum als solchen. Auf dessen Boden sind Kleinsttafeln mit Zahlen zu sehen, die wie eine Form der Tatortsicherung wirken. Die Figuren werfen Schatten zwischen den Kirchenbänken. Als schrecklich tragische Familie sind sie aber vor allem auf einer Plattform zwischen Grabkerzen, Blumen und Plüschtieren dabei, Konflikte zu durchleben.

Zum hohen Niveau der Aufführung trägt das edel klingende, historisch informierte Ensemble Continuum Wien unter der sensiblen Leitung von Luca De Marchi bei. Das wiederentdeckte Werk voll der interessanten Ideen wird klangsinnlich wie prägnant vermittelt.











Die Presse

Kain und Abel, kontrapunktisch reich in Retz

07.07.2024 von Josef Schmitt

Christian Baier, Neo-Intendant des Festival Retz, überzeugt mit der österreichischen Erstaufführung von Leonardo Leos barockem Oratorium „La Morte di Abele“. Es ist die weltweit erste szenische Realisierung dieses Werks.

Intendantenwechsel in Österreichs Festivalszene: Nach Gars – Clemens Unterreiner übernimmt von Johannes Wildner – und Klosterneuburg, wo ein Nachfolger für Michael Garschall gesucht wird, hatte der langjährige Intendant des Festival Retz, Alexander Löffler, Ende des vorjährigen Festivals überraschend seinen Rückzug bekannt gegeben. Rechtzeitig für die Programmierung des Festivals 2024 war mit Christian Baier sein Nachfolger gefunden.

Baier, promovierter Musikwissenschaftler, hat viele Musiktheater-Stationen durchlaufen: Dortmund, Wuppertal, Nürnberg und Berlin; in Wien war er Chefredakteur der Österreichischen Musikzeitschrift und Musiktheaterdramaturg der Wiener Festwochen. In Retz möchte er „inhaltlich und künstlerisch an die vergangenen Spielzeiten anschließen.“ Mit der Programmierung des barocken Oratoriums „Morte di Abele“ („Der Tod Abels“), von Leonardo Leo, bewies er, dass dies nicht nur eine leere Versprechung war.

Die österreichische Erstaufführung des Werks in der Retzer Kirche St. Stephan war weltweit die erste szenische Realisierung dieses Werks. Leonardo Leo (1694-1744) war einer der wichtigsten Komponisten der Neapolitanischen Opernschule. „La Morte di Abele“ entstand nach einem Libretto von Pietro Metastasio.


Mit Luca de Marchi hat ein ausgewiesener Barockexperte das Oratorium einstudiert. Er verbrachte Monate damit, aus den erhaltenen historischen Abschriften spielbares Notenmaterial zu erarbeiten. Mit dem Ensemble Continuum Wien gelang ihm eine überaus spannende Realisierung des kontrapunktisch reichen Werks, selbst in den lediglich vom Generalbaß begleiteten Rezitativen von dramatischem Atem und harmonischer Farbigkeit.

Der Münchner Regisseur Sebastian Hirn, ehemals Assistent von Luc Bondy, verzichtete in seiner Inszenierung auf billige zeitgeistige Aktualisierungen. Dank starker, aber niemals aufdringlich kontrastierender Typisierung gelangen in der gemeinsam mit der Schweizer Filmemacherin Nicole Aebersold erarbeiteten Mischung aus traditionellem Bühnenbild und moderner Technologie starke Momente.

Geschwister- und Generationen-Konflikte zeichneten der norwegische Tenor Markus Bjørlykke als stimmgewaltiger, dramatischer Kain sowie die norwegische Sopranistin Eldrid Gorset als Abel, die mit modulationsfähigem Sopran zwischen freudiger Naivität und beklemmender Todesahnung changierte.

Der ukrainische Bariton Nikita Ivasechko, Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper, gab mit sonorem Bass-Bariton den von Grund aus bösen Adam. Eva, Cornelia Sonnleithner, gelang zuletzt dank ausgewogenem Mezzo-Timbre der emotionale Höhepunkt, während sie ihren toten Sohn Abel in einem Grab aus Stofftieren begrub. Für de Marchi und das exzellente Solistenquartett gab es am Schluss Standing Ovation.



Kritiken Theater, Oper, Ausstellungen, Installationen



Kritik der Ausstellung im Kunstraum München


abandoned positions (Ausstellung), München 2020

Süddeutsche Zeitung, 7. Feburar 2020


Warten aufs Glück

Kolumne von Egbert Tholl
...Wer es stattdessen ganz konkret will, sollte den Kunstraum München besuchen. Dort ist bis 8. März noch die dokumentarische Videoinstallation abandoned positions von Sebastian Hirn und Lisa Hörstmann zu sehen, die eine Fülle hochspannender, schonungslos offener Interviews zum Irakkrieg 2003 zeigt, mit Kriegsveteranen, damaligen Kriegsgegnern, irakischen Flüchtlingen, entstanden zwischen 2015 und 2018.



Kritik der Installation, Choreographie, Aktion Performance im Streitfeld München



10 Trials and nor more reels, München 2015

Süddeutsche Zeitung, 14. Juli 2015


Atmosphäre der Verlorenheit

Musik und Theater nahe an der Schmerzgrenze: Sebastian Hirns ‚10 Trials and no more reels‘ in der Streitfeldstraße 33

Das einstige Schwimmbad in der Streitfeldstraße in Berg am Laim könnte zu einem spannenden Ort für performatives Theater werden. Wenn da nur nicht die Behörden und besorgte Anwohner wären

von Sabine Leucht
Das ehemalige Schwimmbad in der Streitfeldstraße 33 ist offiziell nur ein Lagerraum, aber zweifellos auch ein spannender Ort für Theater. Wäre da nicht die Angst der Behörden vor dem Absturz von Zuschauern ins leere Bassin... Doch selbst wenn der Sicherheit genüge getan wird, bleibt da noch der begrenzte Raum, den Sebastian Hirn für seine Installation „10 trials and no more reels“ am vergangenen Wochenende fluchtwegtauglich durch stählerne Anbauten verbreitert hat, so dass eine überschaubare Anzahl von Besuchern sich mit freier Sicht aufs Becken bewegen konnte, in dem nicht nur ein fast vollständiges Fischerboot und eine Steuermannkabine Platz fanden, sondern auch die Tänzerinnen Sahra Huby und Hyoung- Min Kim, die mit ihren Körpern den Raum abtasteten, Rettungsringe ritten und mit robbenden Bewegungen hinter sich herzogen oder sich mit Schulter oder Kopf auf dem ungerührt weiter Wind generierenden, klopfenden und tönenden Akkordeonisten Krassimir Sterev abstützten.

Wie ferngesteuert oder auf der Flucht vor einem unabwendbaren Schicksal hieven sich Kim und Huby mit steif gewordenen oder scheinbar aneinandergewachsenen Gliedern aus dem Schiffsbauch, schmeißen sich vom Boot aus gerade noch so an den Beckenrand, oder zwängen sich durch die Licht- und Belüftungsschächte nach draußen. Aber sie kommen auch immer wieder, ziehen ganz und gar nicht getrieben Schuhe an und aus, legen mit losen Mosaikfliesen Muster oder verspannen Seile. Kurz: Machen Zeug. Und machen es gut. Aber es wird dabei schon auch klar, warum Hirn seine kleine „Aktionsreihe“ für’s freie Kommen und Gehen eingerichtet hat.

Denn es gibt keine Dramaturgie, kein Warum und Wozu hinter den Aktionen, nur eine leicht klaustrophobische, fast endzeitliche Atmosphäre der Verlorenheit, die einen etwa eine Stunde lang in Bann zieht, ehe das eigene Hirn zu viele Fragen generiert. Das ist im übrigen an beiden Abenden so, die sich in der Intensität und der konkreten Ausformung, nicht aber wesentlich unterscheiden.
Auf den geplanten Schaum im zweiten Teil hat der Regisseur verzichtet, weil die Verantwortlichen vom Verein „Genius loci“ nach den Anwohnerprotesten des Vortrages wenigstens innerhalb des Hauses auf Nummer sicher gehen wollten. Die Proteste konnte mitverfolgen, wer den Raum wegen der hart an die Schmerzgrenze gefahrenen Akkorde der Schweizer Bassformation Frachter vor Ende verlassen hatte: tollen andersweltlichen Lauten eigentlich, zu denen man das Seufzen der Wale wie des Weltraums assoziieren kann, aber auch eine wirksame Foltermethode. Und selbst wenn man sich angeblich weit jenseits von tödlichen Frequenzen befunden hat, ist diese schädeldeckenabhebende Form der Ganzkörpermassage nicht jedermanns Sache. Auch den sich von einer dubiosen „Künstlervereinigung“ terrorisiert fühlenden Anwohnern fehlte scheint’s der Sinn für die Schönheit eines erbebenden Hauses, dessen Lichtschachtabdeckungen draußen vor der Tür ihren eigenen scheppernden Tanz aufführten.
Man muss wohl noch mehr beachten als einen raumgemäßen, starken Zugriff und die Wünsche der Lokalbaukommission, wenn man in einem Wohngebiet langfristig ein neues Terrain für’s zeitgenössische Theater erobern will.





Kritik der Theateraufführung in einer ehemaligen Farbenfabrik in München

outposts of resistance, München 2016

Süddeutsche Zeitung, 25. November 2016


Monströs

„Outposts of Resistance“ - ein riesiges Tableau des Irakkriegs

von Egbert Tholl

Der Weg zur Aufführung und der Ort selbst, an dem diese stattfindet, stimmen einen trefflich ein auf das, was kommen wird: 195 Minuten Krieg. Und zwar als riesenmonströses Wort- und Lärm-Panoptikum, so überbordend in Inhalt und Länge, dass man zwischenzeitlich glaubt, der Regisseur Sebastian Hirn wolle den Irakkrieg von 2003 in Echtzeit nachstellen. Dabei geht es nur um einen, allerdings sehr bemerkenswerten Randaspekt: Noch vor Ausbruch des Krieges ging eine Gruppe von Friedensaktivisten in den Irak, um als „Human Shields“, menschliche Schutzschilde also, zivile Einrichtungen vor der Bombardierung zu schützen. Wer weiß, wären es so viele gewesen, wie der Initiator Ken O‘Keefe sich ersehnt hatte, vielleicht wäre gar keine Bombe gefallen - ein schöne Utopie.

Lisa Hörstmann und Sebastian Hirn haben eine Überfülle an Material aufbereitet und geben es sechs Darstellern, die viele, viele Figuren verkörpern, 131 Szenen in mehr

als drei Stunden und auf Englisch. Danach hat man eine Ahnung, wie es im Irak vor, während und nach dem Krieg war und ist, welche Interessen hier verfolgt wurden und werden. Hirn kann sich von kaum einer Information lösen, es ist eine Überforderung, die zwar durchaus gewinnbringend ist, aber auch eine lehrreiche Tortur. Dazu treibt Zoro Babel auf seinem Schlagzeug das von den Amerikanern erdachte „kreative Chaos“ an.

Manche der „Darsteller“ sind „echt“, die engelsgleiche irakische Dichterin Naseem Al-Daghstany etwa. Plastizität schaffen die prächtigen Bühnenprofis Andi Bittl und Anjorka Strechel, die an diesem Abend auch noch aussieht wie Léa Seydoux.

Insgesamt ein irres und irrlichterndes Erlebnis, bis 1. Dezember in der Plinganserstraße 52.




Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


Entführung aus dem Serail, Aachen 2016

Aachener Zeitung, 7. April 2016


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Jenny Schmetz
Aachen Mit seinen Arbeiten sorgt Sebastian Hirn schon mal für Verstörung. Zum Beispiel 2014, als er für seine Installation „Trojanisches Pferd“ Lkw-Unfälle in der Münchner City inszenierte. Oder kurz zuvor am Staatstheater Nürnberg, als er in Glucks Oper „Paride ed Elena“ Sänger mit Wassermassen und Zuschauer mit Scheinwerfern traktierte. Nun arbeitet der Münchner Regisseur und Bühnenbildner erstmals am Aachener Theater. Da hat er schon vor der Premiere mächtig Staub aufgewirbelt — im wörtlichen Sinne.

Der 40-Jährige bringt Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf die Bühne. Das 1782 uraufgeführte Singspiel um den Kulturkonflikt zwischen Abend- und Morgenland findet laut Libretto an einem orientalischen Palast statt. In Aachen war es zuletzt 2005 vor einer riesigen Ölpumpe zu sehen, andernorts wurde es auch schon in die Wüste oder ins Bordell verlegt.

Nun erblickt der Aachener Zuschauer weder Serail noch Vorstadt-Plattenbau noch IS-Terrorcamp, obwohl die Handlung — zwei europäische Frauen werden von einem orientalischen Herrscher und seinem sadistischen Aufseher gefangen gehalten — heute manchen Regisseur zur Aktualisierung verleitet: vom Geschlechterkampf am Bügelbrett bis zu Anspielungen auf Islamismus und Terrorismus.

Aber in Aachen wollen Sebastian Hirn und sein Dramaturg Christoph Lang nun gar keine bestimmte Welt abbilden. Schon Mozart habe mit der damaligen Mode-Gattung der „Türken-Oper“ keine authentische Welt präsentiert, sondern eine Sehnsuchtsvorstellung, geprägt von Exotismus und Rassismus.

Die Aachener Theatermacher wollen anknüpfen an die arabische Erzähltradition: „Der Teppich wird ausgerollt — und das Erzählen beginnt.“ Sogar mit rund 30 Orientteppichen wollte Hirn seine Bühne ausstaffieren, muslimische Kulturvereine und Privatpersonen hatten sie dem Theater geliehen, und darauf wurde auch geprobt.

Aber dann kam eben der Staub ins Spiel. Und zwar massiv — was erst im Scheinwerferlicht der Endproben auf der großen Bühne zu erkennen gewesen sei. „Die Belastung für die Sänger war unerträglich“, sagt Lang — inklusive Hustenanfällen und allergischen Reaktionen. Auch eine Reinigung habe kaum Besserung gebracht. Daher entschloss sich Hirn wenige Tage vor der Premiere, „alle Teppiche rauszuschmeißen“.

„Da blutet mir das Herz“, sagt er. Nun muss also sehr kurzfristig eine Not-Lösung her — mit Hilfe einer Druckerei.
Nicht nur der Dreck von der Bühne soll weg, auch die ursprünglichen Dialogtexte hat Hirn „sehr entstaubt“ — und Fremdtexte integriert: von Montesquieu bis Heiner Müller. Zudem schlägt der Regisseur einen Bogen von der orientalischen Erzähltradition hin zum epischen Theater Brechts und Piscators. So bietet etwa eine Laufschrift über der Bühne mit Kommentaren eine zusätzliche Reibungsfläche.

Für Irritationen könnte auch sorgen, dass der aufgeklärte Muselmann Bassa Selim von einer Frau gespielt wird. Damit wolle man keine lesbische Beziehung zwischen Selim und seiner Gefangenen Konstanze zeigen, sagt Hirn.

Vielmehr habe es ihn interessiert, unabhängig von Macho-Gesten zu fragen: Was heißt es, Macht über einen anderen auszuüben? Und was heißt Aufklärung heute — auch angesichts der Bedrohung von Freiheitsrechten in Zeiten des Terrors? In der Vorlage entlässt der Herrscher seine Sklaven schließlich in die Freiheit. Bei Hirn ist das Ende weniger happy . . .

In Kritiken zu seinen Inszenierungen liest man schon mal was von „pubertär überdrehtem Aktionismus“ oder „radikal verstörenden“ Mitteln. Er scheint weder Darsteller noch Zuschauer zu schonen. „Ich bin ja nicht bestellt zum Schonen“, sagt Hirn. Aber das Aachener Publikum habe nichts Heftiges zu befürchten, meint er lächelnd.

Außerdem ist da ja noch die zu Herzen gehende Musik! Vor der leeren Bühne wird das Sinfonieorchester mit Generalmusikdirektor Kazem Abdullah am Pult durch Glitzerfolie und Lämpchen im Graben betont. Da tritt Hirn in den Hintergrund: „Die Musik haucht der Geschichte erst Leben ein.“

„Die Entführung aus dem Serail“ hat am Sonntag, 10. April, 18 Uhr, Premiere im Theater Aachen. Es singen und spielen Çidem Soyarslan (Konstanze), Patricio Arroyo (Belmonte), Jelena Rakic (Blonde), Keith Bernard Stonum (Pedrillo), Randall Jakobsh (Osmin) und Pascale Schiller (Selim). Weitere Termine bis zum 29. Mai.

Karten gibt es beim Kundenservice des Medienhauses Zeitungsverlag Aachen.






Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


GrenzEcho, 16.04.2020


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Sibylle Offergeld


Ja, Rache ist hässlich. Diese Endlosschleife der Vergeltung, in der Gewalt neue Gewalt produziert, war schon zu Mozarts Zeiten ein Gegen-Manifest der Humanität wie in seinem Opus „Die Entführung aus dem Serail“ wert. Im Theater Aachen hat die Regie das Werk jetzt durch einen eigenen sozial-philosophischen Appell erweitert.

Die gegenwärtige Debatte um Flüchtlinge und Fremdenhass geht an den Kulturschaffenden nicht ungehört vorüber. In der „Entführung aus dem Serail“ am Theater Aachen etwa lässt Regisseur Sebastian Hirn kritische Texte von Rousseau bis Sartre einfließen. Während das Publikum die Musik von Mozart (Leitung Kazem Abdullah) bei der Premiere freudig begrüßte, löste die Inszenierung eher ein Gefühl der Entzauberung aus. Allzu zerrupft erschien vielen das Werk, allzu doktrinär die Vermittlung von Werten im Geist der Aufklärung mittels Spruchband wie in einer Kunst-Installation. Anfangs ist die Bühne dunkel und nackt. Der Blick saugt sich an den Eingeweiden der Bühnentechnik fest, bis Helfer einen mit orientalischen Mustern bedruckten Belag ausrollen, auf dem nach alter Tradition des Nahen Ostens erzählt werden soll. In der ersten Stuhlreihe des Parketts nehmen Akteure neben Theaterbesuchern Platz. Dort entfaltet Belmonte (Patricio Arroyo) nach dem kontrastreichen Presto der Ouvertüre vokalen Schmelz, wenn er von der Unruhe des Herzens singt.

Immer wieder zieht es das Ensemble in Publikumsnähe. Ungetrübter kulinarischer Genuss ist nicht vorgesehen. Der Zuschauer soll aus alten Denkmustern zur Neuorientierung finden und sich angesprochen fühlen. Aus den Stuhlreihen deutet auch der Herrscher Selim mit großer Geste zum burlesken bis dramatischen Geschehen auf dem Teppich-Surrogat. Die Akteurin Pascale Schiller spielt den Pascha zunächst mit leicht zerzauster Langhaar-Mähne und lässiger Neuzeit-Gewandung (Kostüme Lisa Däßler) in gewollter Ambivalenz zwischen Härte und Güte. Erst beim Finale des Dreiakters erscheint sie in würdiger und beeindruckender Pose als Galionsfigur der Weisheit. Nach einem Gnaden-Spruch darf dann musikalisch über „soviel Huld“ gejubelt werden. Und vom zweiten Rang schmettert der Chor unter der Leitung von Elena Pierini Hymnisches aus dem 1782 in Wien uraufgeführten Werk des Wolfgang Amadeus Mozart. Das geht unter die Haut.
Eine pittoreske Geschichte wird zur Vorlage für eine humanitäre Rückbesinnung.


Der Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hirn hat sich dem interkulturellen Dialog, der zwischenmenschlichen Achtsamkeit und dem Abbau von Feindbildern verschrieben. Da ist die Geschichte von den als Sklaven verkauften Europäerinnen Konstanze (Cigdem Soyarslan), ihrer Zofe Blonde (Larisa Vasyukhina) und des Dieners Pedrillo (Keith Bernard Stonum) ins Muselmanische für die Regie eine geeignete Vorlage zur humanitären Rückbesinnung. Die Figur des in Gewaltphantasien schwelgenden Aufsehers Osmin (Randall Jakobsh) könnte Vorurteile bestätigen, aber das wird durch neckisches Treiben und die edle Haltung des Paschas ausgeglichen: Der orientalische Herrscher schwört der Rache ab.

Über der Bühnenszenerie zieht derweil unbeirrt eine laufende Schrift mit wechselndem Inhalt ihre Bahn, offenbar eine Art Weckruf für eingelullte, pauschalierende Zeitgenossen. Da heißt es unter anderem „Die heile Welt ist die letzte“. Es folgen Appelle zur Selbsterforschung, zur Sensibilisierung.

Die eingefügte Neuzeit-Sprache ist mitunter rüde. „Verpiss dich“, sagt Blonde zum Macho Osmin, um bald darauf in lachsfarbenen Dessous über die Bühne zu wirbeln. Mit Pedrillo gibt sie der Humoreske in Mozarts Spiel Raum, während Randall Jakobsh dem paarungsbereiten Aufseher mit tiefgründig-sonorem Stimmpotential griffig Kontur verleiht. Die Damen Konstanze und Blonde erfreuen durch vokale Anmut, aparte Mittellagen, sichere Höhen. Klangschönheit zeichnet neben Patricio Arroyo auch Keith Bernard Stonum aus, mit markanter Kompaktheit punktet der Chor. Die kraftvollen Akzente des Orchesters mit den Anklängen an Janitscharen-Musik zu Beginn, das stimmungsvolle Quartett des 2. Aktes und Mozarts geniale Klangsprache beeindrucken das Publikum. Dafür gibt es nach der über dreistündigen Aufführung viel Applaus. Buh-Rufe erntet dagegen das Regie-Team. Alles in allem eine ambitionierte Inszenierung, die polarisiert und zur Diskussion anregt.