Kritiken Theater, Oper, Ausstellungen, Installationen



Vorankündigung/ Kritik der bespielten Videoinstallation, schwere reiter München


unwritten archives - (re)constructing the past, München 2023

Süddeutsche Zeitung, 7. September 2023


Zu Besuch im Land der Täter


von Egbert Tholl
München - Immer wieder läuft in Ausschnitten der grässliche Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha über das Schriftband. Später wird er auch verlesen. ,,Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen:[...]Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr (Kanone) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder 

Mit dabei sind fünf Nachfahren derer, die damals vernichtet werden sollten

Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinde mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen. Das sind meine Worte an das Volk der Herero." Von Trotha ergänzt noch, dass das Schießen auf Frauen und Kinder so zu verstehen sei, dass man über deren Köpfe hinwegschießen soll, dann würden die schon davonlaufen und die Truppe wird sich „des guten Rufes des Deutschen Soldaten" bewusst bleiben.

Kurzer, sehr verknappter historischer Abriss. 1884 verteilten die Kolonialmächte auf der Berliner Kongo-Konferenz die noch nicht unter ihrer Herrschaft stehenden Gebiete Afrikas, Deutschland erhielt unter anderem das Gebiet des heutigen Namibia. Die Kolonialherren zerstörten in „Deutsch-Südwestafrika" die Strukturen der indigenen Bevölkerung, zwangen Herero und Nama, für sie zu schuften, Epidemien brachen aus, schließlich kam es zu Aufständen, einfach, weil die völlig verarmte Bevölkerung überleben wollte.

Berlin schickte General von Trotha, der von 1904 an die Aufstände brutal niederschlug, nach der Schlacht am Waterberg alle Wasservorkommen in der Omaheke­ Wüste besetzen und die dorthin Geflohenen verdursten ließ. 1911 waren von den circa 80 000 Herero noch 15 000 am Leben, über 10 000 Nama wurden getötet. Erst 2021konnte sich die Bunderegierung dazu durchringen, sich zu entschuldigen, und stellte 1,1 Milliarden Euro „intensivierte Entwicklungshilfe" auf 30 Jahre in Aussicht. Das Geld geht allerdings an die namibische Regierung, nicht unmittelbar an die Nachfahren der Herero, Nama und der anderen Stämme, die unter der Kolonialherrschaft vernichtet werden sollten.

Wenn man begreifen, erspüren will, was das alles für Namibia heute bedeutet, dann muss man ins Schwere Reiter gehen. Dort zeigt Sebastian Hirn seine Aufführung, Performance, Videoinstallation „unwritten archives - (re)constructing the past" am 7., 8. und 9. September. Mit dabei: fünf Nachkommen derer, die damals von den Deutschen vernichtet werden sollten.

Sebastian Hirn lässt nicht los, wenn er auf ein Thema stößt. Jahrelang hat er zum Beispiel an einer Video-Installation über Friedensaktivisten aus Europa und den USA gearbeitet, die vor Beginn des Kriegs 2003 als „Human Shields" in den Irak gingen, um mit ihren Körpern vor allem für die Infrastrukturwichtige Gebäude zu schützen, monatelang fuhr er dafür in den USA herum, traf Veteranen des Kriegs, Aktivisten. Und jetzt fuhr er nach Namibia.
Der Völkermord an den Herero und Nama beschäftigt ihn seit seiner Schulzeit. Der wurde in Deutschland verdrängt, aber überall stehen hier Denkmäler aus wilhelminischer Zeit herum, viele von Bismarck, der damals die Kongo-Konferenz einberief. Dann kam Corona, drinnen konnte man kein Theater mehr machen, also bespielte Hirn mit Tänzerinnen die Denkmäler - die Aufnahmen davon sieht man jetzt in der Aufführung. Gleichzeitig erwachte Hirns Interesse, sich mit Traumata und deren Weitergabe über Generationen hinweg zu beschäftigen.

Also Namibia. Auf zwei Reisen traf er zunächst die Aktivistin Hildegard Titus aus dem Volk der Owambo, jung und rasant im Denken. Die brachte Hirn in Kontakt mit Performance-Künstlern wie Muningandu Hoveka und Gift Uzera, dazu kamen Stephanus Sylvester Swartbooi, Veteran aus dem Unabhängigkeitskampf Namibias gegen Südafrika (durch Beteiligung Angolas im Kern ein Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West), und Prince Marenga Kambazembi. Die Fünf, Vertreter der Herero, Nama und Owambo, sind nun in München mit dabei, als Performer, als sie selbst.

"Unwritten archives" ist ein überbordendes Tableau, so breit wie tief. Hirn führte in Namibia viele Video-Interviews, ein Bruchteil ist in der Aufführung zu sehen. Zum Beispiel Harry Schneider-Waterberg, der am Ort der vernichtenden Niederlage der Herero eine Lodge betreibt, sich als Hobby­Historiker betätigt und eine etwas eigenwillige Sicht auf die Geschichte hat. Man sieht verschiedene Vertreter von Clans und Interessengemeinschaften der Herero oder Nama, einen Laienprediger, eine Journalistin. Allein schon deren Aussagen machen die Heterogenität des Umgangs mit der Geschichte deutlich. Die Vertreter der indigenen Bevölkerung etwa sind der Meinung, Deutschland hätte doch besser mit ihnen reden sollen, als es um das ging, was explizit nun Entwicklungshilfe und nicht Entschädigung heißt. Das ist nur ein Splitter in dem Gesamtgefüge.

Auf der Bühne: die Fünf aus Namibia, die Tänzerin Julia Keren Turbahn, die Schauspielerin Ines Hollinger, der Schauspieler Andreas Bittl, der Musiker Florian Götte (und zwei Pferde).

Nach dem Besuch einer Probe der Aufführung im Rohzustand ist man übervoll mit Aussagen aus Namibia heute, Briefen von Missionaren damals, die ihr Entsetzen äußern, aber auch seltsam blasiert bleiben, Splittern wilhelminischer Großmachtfantasien, Kirchenliedern (die deutsche Gemeinde dort war sehr lutherisch geprägt), aber auch einem betörend schönen afrikanischen Lied.

Man hört die Wut in den Worten der Herero, man sieht eine Choreographie von gefangenen, versehrten, ihrer Seelen beraubten Menschen, man bewundert die Fünf aus Namibia. Das alles ist eingebettet in die raumfüllenden Filmaufnahmen. Der Friedhof der Weißen, Marmorgräber. Der der toten Herero: Hügel aus Sand, die immer wieder neu gebaut werden müssen, weil der Wind sie verweht. Die Haifisch-Insel, Ort des Konzentrationslagers. Die Wüste, in die die Herero getrieben wurden. Aber auch Singen im Gemeindesaal. Und schließlich: das Gedenken. Ein Denkmal im Sand, ein Trompeter am Meer. Genozid­Erinnerungstag. Die Trompete soll die Seelen der Toten aufwecken. Weil sie nicht vergessen sind.  




Kritiken Theater, Oper, Ausstellungen, Installationen



Kritik der Ausstellung im Kunstraum München


abandoned positions (Ausstellung), München 2020

Süddeutsche Zeitung, 7. Feburar 2020


Warten aufs Glück

Kolumne von Egbert Tholl
...Wer es stattdessen ganz konkret will, sollte den Kunstraum München besuchen. Dort ist bis 8. März noch die dokumentarische Videoinstallation abandoned positions von Sebastian Hirn und Lisa Hörstmann zu sehen, die eine Fülle hochspannender, schonungslos offener Interviews zum Irakkrieg 2003 zeigt, mit Kriegsveteranen, damaligen Kriegsgegnern, irakischen Flüchtlingen, entstanden zwischen 2015 und 2018.



Kritik der Installation, Choreographie, Aktion Performance im Streitfeld München



10 Trials and nor more reels, München 2015

Süddeutsche Zeitung, 14. Juli 2015


Atmosphäre der Verlorenheit

Musik und Theater nahe an der Schmerzgrenze: Sebastian Hirns ‚10 Trials and no more reels‘ in der Streitfeldstraße 33

Das einstige Schwimmbad in der Streitfeldstraße in Berg am Laim könnte zu einem spannenden Ort für performatives Theater werden. Wenn da nur nicht die Behörden und besorgte Anwohner wären

von Sabine Leucht
Das ehemalige Schwimmbad in der Streitfeldstraße 33 ist offiziell nur ein Lagerraum, aber zweifellos auch ein spannender Ort für Theater. Wäre da nicht die Angst der Behörden vor dem Absturz von Zuschauern ins leere Bassin... Doch selbst wenn der Sicherheit genüge getan wird, bleibt da noch der begrenzte Raum, den Sebastian Hirn für seine Installation „10 trials and no more reels“ am vergangenen Wochenende fluchtwegtauglich durch stählerne Anbauten verbreitert hat, so dass eine überschaubare Anzahl von Besuchern sich mit freier Sicht aufs Becken bewegen konnte, in dem nicht nur ein fast vollständiges Fischerboot und eine Steuermannkabine Platz fanden, sondern auch die Tänzerinnen Sahra Huby und Hyoung- Min Kim, die mit ihren Körpern den Raum abtasteten, Rettungsringe ritten und mit robbenden Bewegungen hinter sich herzogen oder sich mit Schulter oder Kopf auf dem ungerührt weiter Wind generierenden, klopfenden und tönenden Akkordeonisten Krassimir Sterev abstützten.

Wie ferngesteuert oder auf der Flucht vor einem unabwendbaren Schicksal hieven sich Kim und Huby mit steif gewordenen oder scheinbar aneinandergewachsenen Gliedern aus dem Schiffsbauch, schmeißen sich vom Boot aus gerade noch so an den Beckenrand, oder zwängen sich durch die Licht- und Belüftungsschächte nach draußen. Aber sie kommen auch immer wieder, ziehen ganz und gar nicht getrieben Schuhe an und aus, legen mit losen Mosaikfliesen Muster oder verspannen Seile. Kurz: Machen Zeug. Und machen es gut. Aber es wird dabei schon auch klar, warum Hirn seine kleine „Aktionsreihe“ für’s freie Kommen und Gehen eingerichtet hat.

Denn es gibt keine Dramaturgie, kein Warum und Wozu hinter den Aktionen, nur eine leicht klaustrophobische, fast endzeitliche Atmosphäre der Verlorenheit, die einen etwa eine Stunde lang in Bann zieht, ehe das eigene Hirn zu viele Fragen generiert. Das ist im übrigen an beiden Abenden so, die sich in der Intensität und der konkreten Ausformung, nicht aber wesentlich unterscheiden.
Auf den geplanten Schaum im zweiten Teil hat der Regisseur verzichtet, weil die Verantwortlichen vom Verein „Genius loci“ nach den Anwohnerprotesten des Vortrages wenigstens innerhalb des Hauses auf Nummer sicher gehen wollten. Die Proteste konnte mitverfolgen, wer den Raum wegen der hart an die Schmerzgrenze gefahrenen Akkorde der Schweizer Bassformation Frachter vor Ende verlassen hatte: tollen andersweltlichen Lauten eigentlich, zu denen man das Seufzen der Wale wie des Weltraums assoziieren kann, aber auch eine wirksame Foltermethode. Und selbst wenn man sich angeblich weit jenseits von tödlichen Frequenzen befunden hat, ist diese schädeldeckenabhebende Form der Ganzkörpermassage nicht jedermanns Sache. Auch den sich von einer dubiosen „Künstlervereinigung“ terrorisiert fühlenden Anwohnern fehlte scheint’s der Sinn für die Schönheit eines erbebenden Hauses, dessen Lichtschachtabdeckungen draußen vor der Tür ihren eigenen scheppernden Tanz aufführten.
Man muss wohl noch mehr beachten als einen raumgemäßen, starken Zugriff und die Wünsche der Lokalbaukommission, wenn man in einem Wohngebiet langfristig ein neues Terrain für’s zeitgenössische Theater erobern will.





Kritik der Theateraufführung in einer ehemaligen Farbenfabrik in München

outposts of resistance, München 2016

Süddeutsche Zeitung, 25. November 2016


Monströs

„Outposts of Resistance“ - ein riesiges Tableau des Irakkriegs

von Egbert Tholl

Der Weg zur Aufführung und der Ort selbst, an dem diese stattfindet, stimmen einen trefflich ein auf das, was kommen wird: 195 Minuten Krieg. Und zwar als riesenmonströses Wort- und Lärm-Panoptikum, so überbordend in Inhalt und Länge, dass man zwischenzeitlich glaubt, der Regisseur Sebastian Hirn wolle den Irakkrieg von 2003 in Echtzeit nachstellen. Dabei geht es nur um einen, allerdings sehr bemerkenswerten Randaspekt: Noch vor Ausbruch des Krieges ging eine Gruppe von Friedensaktivisten in den Irak, um als „Human Shields“, menschliche Schutzschilde also, zivile Einrichtungen vor der Bombardierung zu schützen. Wer weiß, wären es so viele gewesen, wie der Initiator Ken O‘Keefe sich ersehnt hatte, vielleicht wäre gar keine Bombe gefallen - ein schöne Utopie.

Lisa Hörstmann und Sebastian Hirn haben eine Überfülle an Material aufbereitet und geben es sechs Darstellern, die viele, viele Figuren verkörpern, 131 Szenen in mehr

als drei Stunden und auf Englisch. Danach hat man eine Ahnung, wie es im Irak vor, während und nach dem Krieg war und ist, welche Interessen hier verfolgt wurden und werden. Hirn kann sich von kaum einer Information lösen, es ist eine Überforderung, die zwar durchaus gewinnbringend ist, aber auch eine lehrreiche Tortur. Dazu treibt Zoro Babel auf seinem Schlagzeug das von den Amerikanern erdachte „kreative Chaos“ an.

Manche der „Darsteller“ sind „echt“, die engelsgleiche irakische Dichterin Naseem Al-Daghstany etwa. Plastizität schaffen die prächtigen Bühnenprofis Andi Bittl und Anjorka Strechel, die an diesem Abend auch noch aussieht wie Léa Seydoux.

Insgesamt ein irres und irrlichterndes Erlebnis, bis 1. Dezember in der Plinganserstraße 52.




Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


Entführung aus dem Serail, Aachen 2016

Aachener Zeitung, 7. April 2016


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Jenny Schmetz
Aachen Mit seinen Arbeiten sorgt Sebastian Hirn schon mal für Verstörung. Zum Beispiel 2014, als er für seine Installation „Trojanisches Pferd“ Lkw-Unfälle in der Münchner City inszenierte. Oder kurz zuvor am Staatstheater Nürnberg, als er in Glucks Oper „Paride ed Elena“ Sänger mit Wassermassen und Zuschauer mit Scheinwerfern traktierte. Nun arbeitet der Münchner Regisseur und Bühnenbildner erstmals am Aachener Theater. Da hat er schon vor der Premiere mächtig Staub aufgewirbelt — im wörtlichen Sinne.

Der 40-Jährige bringt Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf die Bühne. Das 1782 uraufgeführte Singspiel um den Kulturkonflikt zwischen Abend- und Morgenland findet laut Libretto an einem orientalischen Palast statt. In Aachen war es zuletzt 2005 vor einer riesigen Ölpumpe zu sehen, andernorts wurde es auch schon in die Wüste oder ins Bordell verlegt.

Nun erblickt der Aachener Zuschauer weder Serail noch Vorstadt-Plattenbau noch IS-Terrorcamp, obwohl die Handlung — zwei europäische Frauen werden von einem orientalischen Herrscher und seinem sadistischen Aufseher gefangen gehalten — heute manchen Regisseur zur Aktualisierung verleitet: vom Geschlechterkampf am Bügelbrett bis zu Anspielungen auf Islamismus und Terrorismus.

Aber in Aachen wollen Sebastian Hirn und sein Dramaturg Christoph Lang nun gar keine bestimmte Welt abbilden. Schon Mozart habe mit der damaligen Mode-Gattung der „Türken-Oper“ keine authentische Welt präsentiert, sondern eine Sehnsuchtsvorstellung, geprägt von Exotismus und Rassismus.

Die Aachener Theatermacher wollen anknüpfen an die arabische Erzähltradition: „Der Teppich wird ausgerollt — und das Erzählen beginnt.“ Sogar mit rund 30 Orientteppichen wollte Hirn seine Bühne ausstaffieren, muslimische Kulturvereine und Privatpersonen hatten sie dem Theater geliehen, und darauf wurde auch geprobt.

Aber dann kam eben der Staub ins Spiel. Und zwar massiv — was erst im Scheinwerferlicht der Endproben auf der großen Bühne zu erkennen gewesen sei. „Die Belastung für die Sänger war unerträglich“, sagt Lang — inklusive Hustenanfällen und allergischen Reaktionen. Auch eine Reinigung habe kaum Besserung gebracht. Daher entschloss sich Hirn wenige Tage vor der Premiere, „alle Teppiche rauszuschmeißen“.

„Da blutet mir das Herz“, sagt er. Nun muss also sehr kurzfristig eine Not-Lösung her — mit Hilfe einer Druckerei.
Nicht nur der Dreck von der Bühne soll weg, auch die ursprünglichen Dialogtexte hat Hirn „sehr entstaubt“ — und Fremdtexte integriert: von Montesquieu bis Heiner Müller. Zudem schlägt der Regisseur einen Bogen von der orientalischen Erzähltradition hin zum epischen Theater Brechts und Piscators. So bietet etwa eine Laufschrift über der Bühne mit Kommentaren eine zusätzliche Reibungsfläche.

Für Irritationen könnte auch sorgen, dass der aufgeklärte Muselmann Bassa Selim von einer Frau gespielt wird. Damit wolle man keine lesbische Beziehung zwischen Selim und seiner Gefangenen Konstanze zeigen, sagt Hirn.

Vielmehr habe es ihn interessiert, unabhängig von Macho-Gesten zu fragen: Was heißt es, Macht über einen anderen auszuüben? Und was heißt Aufklärung heute — auch angesichts der Bedrohung von Freiheitsrechten in Zeiten des Terrors? In der Vorlage entlässt der Herrscher seine Sklaven schließlich in die Freiheit. Bei Hirn ist das Ende weniger happy . . .

In Kritiken zu seinen Inszenierungen liest man schon mal was von „pubertär überdrehtem Aktionismus“ oder „radikal verstörenden“ Mitteln. Er scheint weder Darsteller noch Zuschauer zu schonen. „Ich bin ja nicht bestellt zum Schonen“, sagt Hirn. Aber das Aachener Publikum habe nichts Heftiges zu befürchten, meint er lächelnd.

Außerdem ist da ja noch die zu Herzen gehende Musik! Vor der leeren Bühne wird das Sinfonieorchester mit Generalmusikdirektor Kazem Abdullah am Pult durch Glitzerfolie und Lämpchen im Graben betont. Da tritt Hirn in den Hintergrund: „Die Musik haucht der Geschichte erst Leben ein.“

„Die Entführung aus dem Serail“ hat am Sonntag, 10. April, 18 Uhr, Premiere im Theater Aachen. Es singen und spielen Çidem Soyarslan (Konstanze), Patricio Arroyo (Belmonte), Jelena Rakic (Blonde), Keith Bernard Stonum (Pedrillo), Randall Jakobsh (Osmin) und Pascale Schiller (Selim). Weitere Termine bis zum 29. Mai.

Karten gibt es beim Kundenservice des Medienhauses Zeitungsverlag Aachen.






Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


GrenzEcho, 16.04.2020


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Sibylle Offergeld


Ja, Rache ist hässlich. Diese Endlosschleife der Vergeltung, in der Gewalt neue Gewalt produziert, war schon zu Mozarts Zeiten ein Gegen-Manifest der Humanität wie in seinem Opus „Die Entführung aus dem Serail“ wert. Im Theater Aachen hat die Regie das Werk jetzt durch einen eigenen sozial-philosophischen Appell erweitert.

Die gegenwärtige Debatte um Flüchtlinge und Fremdenhass geht an den Kulturschaffenden nicht ungehört vorüber. In der „Entführung aus dem Serail“ am Theater Aachen etwa lässt Regisseur Sebastian Hirn kritische Texte von Rousseau bis Sartre einfließen. Während das Publikum die Musik von Mozart (Leitung Kazem Abdullah) bei der Premiere freudig begrüßte, löste die Inszenierung eher ein Gefühl der Entzauberung aus. Allzu zerrupft erschien vielen das Werk, allzu doktrinär die Vermittlung von Werten im Geist der Aufklärung mittels Spruchband wie in einer Kunst-Installation. Anfangs ist die Bühne dunkel und nackt. Der Blick saugt sich an den Eingeweiden der Bühnentechnik fest, bis Helfer einen mit orientalischen Mustern bedruckten Belag ausrollen, auf dem nach alter Tradition des Nahen Ostens erzählt werden soll. In der ersten Stuhlreihe des Parketts nehmen Akteure neben Theaterbesuchern Platz. Dort entfaltet Belmonte (Patricio Arroyo) nach dem kontrastreichen Presto der Ouvertüre vokalen Schmelz, wenn er von der Unruhe des Herzens singt.

Immer wieder zieht es das Ensemble in Publikumsnähe. Ungetrübter kulinarischer Genuss ist nicht vorgesehen. Der Zuschauer soll aus alten Denkmustern zur Neuorientierung finden und sich angesprochen fühlen. Aus den Stuhlreihen deutet auch der Herrscher Selim mit großer Geste zum burlesken bis dramatischen Geschehen auf dem Teppich-Surrogat. Die Akteurin Pascale Schiller spielt den Pascha zunächst mit leicht zerzauster Langhaar-Mähne und lässiger Neuzeit-Gewandung (Kostüme Lisa Däßler) in gewollter Ambivalenz zwischen Härte und Güte. Erst beim Finale des Dreiakters erscheint sie in würdiger und beeindruckender Pose als Galionsfigur der Weisheit. Nach einem Gnaden-Spruch darf dann musikalisch über „soviel Huld“ gejubelt werden. Und vom zweiten Rang schmettert der Chor unter der Leitung von Elena Pierini Hymnisches aus dem 1782 in Wien uraufgeführten Werk des Wolfgang Amadeus Mozart. Das geht unter die Haut.
Eine pittoreske Geschichte wird zur Vorlage für eine humanitäre Rückbesinnung.


Der Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hirn hat sich dem interkulturellen Dialog, der zwischenmenschlichen Achtsamkeit und dem Abbau von Feindbildern verschrieben. Da ist die Geschichte von den als Sklaven verkauften Europäerinnen Konstanze (Cigdem Soyarslan), ihrer Zofe Blonde (Larisa Vasyukhina) und des Dieners Pedrillo (Keith Bernard Stonum) ins Muselmanische für die Regie eine geeignete Vorlage zur humanitären Rückbesinnung. Die Figur des in Gewaltphantasien schwelgenden Aufsehers Osmin (Randall Jakobsh) könnte Vorurteile bestätigen, aber das wird durch neckisches Treiben und die edle Haltung des Paschas ausgeglichen: Der orientalische Herrscher schwört der Rache ab.

Über der Bühnenszenerie zieht derweil unbeirrt eine laufende Schrift mit wechselndem Inhalt ihre Bahn, offenbar eine Art Weckruf für eingelullte, pauschalierende Zeitgenossen. Da heißt es unter anderem „Die heile Welt ist die letzte“. Es folgen Appelle zur Selbsterforschung, zur Sensibilisierung.

Die eingefügte Neuzeit-Sprache ist mitunter rüde. „Verpiss dich“, sagt Blonde zum Macho Osmin, um bald darauf in lachsfarbenen Dessous über die Bühne zu wirbeln. Mit Pedrillo gibt sie der Humoreske in Mozarts Spiel Raum, während Randall Jakobsh dem paarungsbereiten Aufseher mit tiefgründig-sonorem Stimmpotential griffig Kontur verleiht. Die Damen Konstanze und Blonde erfreuen durch vokale Anmut, aparte Mittellagen, sichere Höhen. Klangschönheit zeichnet neben Patricio Arroyo auch Keith Bernard Stonum aus, mit markanter Kompaktheit punktet der Chor. Die kraftvollen Akzente des Orchesters mit den Anklängen an Janitscharen-Musik zu Beginn, das stimmungsvolle Quartett des 2. Aktes und Mozarts geniale Klangsprache beeindrucken das Publikum. Dafür gibt es nach der über dreistündigen Aufführung viel Applaus. Buh-Rufe erntet dagegen das Regie-Team. Alles in allem eine ambitionierte Inszenierung, die polarisiert und zur Diskussion anregt.