Kritik einer Inszenierung bei den Wiener Festwochen


Leonce und Lena, Wien 2000

Radio Österreich1


Generalthema Gewalt
...Doch  Bondy hat auch das  Gegenstück zu den alten Männern anzubieten und empfiehlt als den Sieger seines „ganz persönlichen Regiewettbewerbs“ die „Leonce und Lena“- Inszenierung des 1975 geborenen Münchner Reinhard Seminaristen Sebastian Georg Hirn, deren Wiederaufnahme er angeregt habe“...






Kritik einer Inszenierung am Schauspielhaus Stuttgart



Untertürkheimer Zeitung, 31. Oktober 2001


Barfuß nach Italien

„Leonce und Lena“ im Theater im Depot

von Anette Sosna
Stuttgart - Eng ist es im Reiche Popo. Vor einer schwarzen Wand lungern Regent Peter, sein Sprössling Leonce und dessen Freund Valerio an der königlichen Tafel herum - quasi auf dem Schoß des Publikums. Gähnende Langeweile herrscht. König Peter ergeht sich wenigstens noch in konfuser Pseudophilosophie, aber dieser royale Nachkomme ist ein rechter Taugenichts, der über die Zahl der Sandkörner auf seinem Handrücken Wetten abschließt und sich höchstens zu einem Schäferstündchen mit Untertanin Rosetta herablässt. Einzig Valerio bringt ein wenig Kurzweil, und sei es nur in Form von Trinkgelagen. „wer einmal jemand Anderes sein könnte!„, sehnsüchtelt Leonce, wenn sein Kopf nicht gerade im Sand oder zwischen Rosettas Beinen steckt. Aber auch das wird auf die Dauer langweilig: Rosetta stürzt also bald vom Konkubinenthron und heult fortan in der linken Bühnenecke Rotz und Wasser. Doch Schlimmeres droht. Leonce soll Prinzessin Lena aus dem Königreiche Pipi heiraten, ein zartes Wesen im Maschendraht-Outfit, das dekorativ mit an der Tafel sitzt. Da hilft nur die Flucht. Leonce beschließt: „Wir gehen nach Italien“. Die magischen Worte wirken wie ein Sesam-Öffne-dich: Ein gleissend helles Viereck strahlt hinter der schwarzen Wand auf, Lena legt das Drahtkorsett ab, Leonce und Valerio ziehen die Schuhe aus, und alle drei tasten sich vorsichtig hinein ins Licht. Das verfinstert sich nur einmal, als Leonce und Lena zueinander finden. „Schöne Leiche, Du ruhst so lieblich ...“ raunt der melancholische Prinz seiner Angebeteten zu. Der morbide Charme zeigt Wirkung: Lena verfällt dem Faulpelz, als Automaten verkleidet wollen nun beide die Hochzeit vortäuschen - um danach erkennen zu müssen, dass sich unversehens doch die Richtigen getroffen haben. Am Ende bleibt den dreien wieder nur die Flucht, diesmal nach Utopia, ein winterloses Reich, in dem die Zeit nach der Blumenuhr läuft.
Ein reines „Lustspiel“, wie der Untertitel sagt? Zynische Kritik au Herrscherklasse und Bauernschicht? Oder Liebe und Schicksal im ironisch-romantischen Gewand? Was Georg Büchner 1836 für die Teilnahme an einem Lustspielwettbewerb des Cotta-Verlages verfasste, beschäftigt die Interpreten bis heute. Doch mit seiner minimalistischen Inszenierung gelingt dem jungen Regisseur Sebastian Hirn der Schritt aus dem Stimmengewirr der Positionen. Er hält sich dicht an den betörend intelligenten Text und lässt ihn ohne interpretatorische Überfrachtung auf den Zuschauer wirken. Dadurch bleibt das Stück beim Stuttgarter Gastspiel des Wiener Max Reinhardt Seminars zwar im Büchnerschen Universum, andererseits ermöglicht dies den ungestörten Genuss der verbalen Gaumenfreuden. Derart gesättigt fallen die gelegentlichen Misstöne weniger ins Gewicht. Philipp Hauß etwa zeigt sich trotz allem - durchaus angebrachten - lost-generation-Habitus zu sehr als hadernder Hamlet, was die Figur des Leonce viel von ihrem dekadenten Esprit kostet. David Fischer überzeichnet seinen Valerio im ausrangierten Neoprenanzug gelegentlich zu sehr ins Skurrile. Doch im Zusammenspiel mit Elisa Seydel als fragiler Lena, Gerti Drassl als Party-Rosetta im GlitzerLook, dem fahrigen König Peter in Gestalt von Bernd Köhler und nicht zuletzt Johannes Maile als diensteifrigem Ein-Mann-Hofstaat ohne Rückgrat findet das Ensemble zu einem überzeugenden Rhythmus. Sebastian Hirns inszenatorischer Minimalismus, in der Ausstattung umgesetzt von Franz Gronemeyer und Dajana Dorfmayr, steht Büchners „Leonce und Lena“ gut an, diesem Lehrstück über eine Dekadenz, vor der auch die letzten Heiligtümer des Weltschmerzes fallen, weil ihnen das Etikett der Selbstinszenierung anhaftet „Mensch, Du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht“, klagt Leonce nach seiner Leichenrede an Lena, als ihn Valerio vom Gang ins Wasser abhält. „Ich werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augenblick mehr dazu finden und das Wetter ist so vortrefflich.“






Kritik einer Inszenierung am Schauspielhaus Stuttgart



Stuttgarter Nachrichten, 02. November 2001


Wenn Perspektivlosigkeit die einzige Perspektive ist

„Leonce und  Lena“ von Georg Büchner: Sebastian Hirns Abschlussarbeit für das Max-Reinhardt-Seminar im Theater im Depot

von Horst Lohr
Leben diese fünf Wesen eigentlich, die an einem Tisch sitzen und aus kalkig geschminkten Gesichtern ins Leere starren, während sich die Zuschauer an ihnen vorbeidrängen, um ihre Plätze zu erreichen? Oder handelt es sich um eine Installation aus dem Wachsfigurenkabinett - Erinnerungsstücke der Spezies Mensch?

Ein fahles Licht scheint über diesen Figuren. Kein „Leonce und Lena „-Märchenstaat, sondern die schwarze Enge eines Sargs. Endstation für sechs Personen aus den Reichen Pipi und Popo.

Ausgesetzt in Sinnlosigkeit von Regisseur Sebastian Hirn, dem 1975 geborenen Münchner Regietalent aus Luc Bondys Meisterklasse am Wiener Max-Reinhardt-Seminar. Seine Inszenierung des Büchner-Lustspiels ist die beachtliche Abschlussarbeit eines Regietalents. Zu lachen gibt es allerdings wenig über diesen beklemmenden Laborbericht des Gemütszustands der Generation der Jungen, deren einzige Perspektive Perspektivlosigkeit heißt. Hirn nimmt Büchner bitterernst und lässt die Essenz des Textes intensiv spielen: die Ohnmacht des Lebens, leer gefegt von echten Werten. Verdichtet in gleichermaßen streng choreografierten und poetischen Bildern der Erstarrung. Büchners Personal ist verbannt ins Land des Nichts. Mit Ausnahme des handfesten Valerio von David Fischer agieren die Figuren als menschliche Maschinen, denen die Worte wie auf Knopfdruck emotionslos aus dem Mund fließen. Ohne einen Adressaten zu suchen, denn die Fähigkeit zur Kommunikation ist diesen Autisten abhanden gekommen. Ihr Reservat ist der lange schwarze Tisch.


Von den Jungen bestiegen als Kalvarienberg, wo sie sich in ihre Langeweile eingraben. Wie Leonce (Philipp Hauß), der semmelblonde Jüngling. Seine Geliebte Rosetta (Gerti Drassl), eine Aufziehpuppe, bedeutet ihm nicht mehr als das mit abwesendem Blick befingerte Spielzeug eines übersättigten Kindes, das wenig später mit Kreide gedankenverloren Striche und Punkte auf die Tischplatte malt.

Leben in der spießigen Welt der Väter

Ein großer Junge, der das Erwachsenwerden verweigert. Eingezwängt in einen gestreiften Pullunder, einem ebenso biederen Relikt der fünfziger Jahre wie das beige Kleidchen, das Elisa Seydels Lena unter einem Drahtgeflecht der Bevormundung trägt (Kostüme: Dajana Dorfmayr und Franz Gronemeyer). Ausdruck der Spießigkeit in einer von den Vätern geschaffenen Welt der Sinnleere, in die sie nun dumpf starren wie Bernd Köhlers König Peter. Assistiert von seinem Hofmeister (Johannes Maile), dem buckelnden Ordnungsfetischisten. Die Flucht der Königskinder voreinander findet in einem von Franz Gronemeyer gestalteten Raum mit schmutzig grauen Papierwänden statt: Die Süße Italiens, in grellem Kunstlicht auf Wohnzimmergröße gestaucht. Keine zärtliche Begegnung zwischen Leonce und Lena. Für beide nicht der Hauch eines Glücksmoments. Wie auf Schienen werden sie und Valerio als Marionetten nebeneinader an unsichtbaren Fäden Zentimeter für Zentimeter bis zur Bühnenrückwand und wieder zurück gezogen - die Macht der Väter zwingt ihre Erben, die Herrschaft über ein Land zu übernehmen, aus dem sich das Leben längst davongemacht hat. Welch ein Graus.







Kritik einer Inszenierung am Schauspielhaus Stuttgart



Schwäbisches Tagblatt, 30. Oktober 2001


Theater / Anwendung und Praxis von Büchners „Leonce und Lena“

Narziß und Goldmund im Land der Zitronen

Wenn  es  einen  deutschen Klassikertext  gibt,  in  dem sich überall und zu jeder Zeit junge  Menschen  wiedererkennen können, dann ist es sicher Georg Büchners  „Leonce und Lena“.

von Christoph Müller
Im Stuttgarter Depot versuchte das gastierende Wiener Max Reinhardt Seminar, jungen Leuten Büchners „Leonce und Lena“ schmackhaft zu machen. „Leonce und Lena“ ist praktisch unspielbar. Es steckt voller literarischer Anspielungen, drechselt die schönsten melancholischen Welteinsichten, gefällt sich in vertrackten Wortspielen und wehklagt in hochpoetischen Sentenzen über Sinn oder Unsinn des Daseins - kurz, es ist ein fein gesponnenes Wortwechselbad und damit ziemlich bühnenuntauglich. Gerade deshalb lieben es alle Theatermacher von Herzen, mit Schmerzen, über alle Maßen.

Normalerweise dauert eine „Leonce und Lena“-Aufführung zwei Stunden. Bei Fritz Kortner wurden vier daraus. Der 26jährige Regie-Student des Wiener Max Reinhardt Seminars Sebastian Hirn (Klassenlehrer: Luc Bondy) ist schon in einer Stunde damit fertig.

Der Stuttgarter Staatsschauspielintendant Friedrich Schirmer hat die Aufführung in Wien gesehen und sie sofort ins Depot-Theater eingeladen. Kein Zweifel, er hat ein Auge auf den in der Tat vielversprechenden Jungregisseur geworfen und ihm einen  (Ausbildungs-)Vertrag an seinem Haus angeboten. Das ist das Gute am Stuttgarter Schirmer-Theater, dass es mit witterndem Instinkt Jahr für Jahr neue Regisseure entdeckt und ihnen hier geduldig die Chance gibt, sich zu entwickeln (das macht außer Schirmer in Deutschland sonst keiner in solch beharrlicher Konsequenz).


Von Sebastian Hirn darf man nach dieser Kostprobe einiges erwarten. Denn er hat einen ausgeprägten Sinn für Sprache, Körper, Raum, Licht und Zeit. Also alles, was ein Regisseur haben sollte. Die Schauspieler sitzen, bis auf Valerio (quick und nicht nur wortgewandt: David Fischer), schon vor Beginn der Vorstellung an einem breiten Tisch, blass geschminkt wie Lemuren als gehörten sie zu Kantors „Toter Klasse“. Sie bleiben auch in der Folge wie unter einem fremden Zauber befangen.

Philipp Hauß ist als Leonce ein merkwürdigerweise dennoch nicht eitel wirkender Narziss und Goldmund. Elisa Seydels Lena erreicht ihn bei seinen grübelnden Selbstbestimmungen und Weltorakeln genauso wenig wie Gerti Drassels Rosetta. Johannes Mailes Hofmeister kritzelt eifrig mit Kreide manisch-absurd seinen Teil des Tisches voll. Bei Bernd Köhlers in Passivität erstarrtem König hilft die Sonnenbrille, um auch ihn in Beckett-Nähe zu rücken. Wenn sie nach Italien aufzubrechen versprechen, fällt der Vorhang hinter dem Tisch und sie trippeln in Zeitlupe in einen weiten leeren Raum. Auch das hat magische Wirkung.

Das Unwirkliche, in dem sich Büchners weltverlorene Figuren traumwandelnd bewegen, hier wird‘s mit sicherem Regiegriff Ereignis. Ein Lebensgefühl drückt sich aus. Sebastian Hirn hat glaubwürdig gemacht, dass er und seine Schauspieleleven sich in dem zeitlos fernen, schmerzhaft lustigen Büchner-Märchentext wieder finden. Das ist schon deutlich mehr als eine Talentprobe.