Kritik einer Inszenierung am Tollwood München



Hänsel und Gretel, München 2006

Süddeutsche Zeitung, 01. Dezember 2006


Die Hex‘ ist tot und gut rasiert

Tollwood zeigt Humperdincks „Hansel und Gretel“ als Oper für Erwachsene

von Klaus Kalchschmid
Freigegeben ab 16 Jahren: So sollte eigentlich der Hinweis für „Hänsel und Gretel“ bei Tollwood auf der Theresienwiese lauten - ähnlich wie etwa auch das Theater Erfurt eine Version von Engelbert Humperdincks Oper „nur für Erwachsene“ anbietet, parallel zu der ganz klassischen. Keine Frage: Märchen und Oper lassen sich tiefenpsychologisch deuten, der Besen, mit dem der Vater fuchtelt, als Phallus verstehen, das Häuschen, an dem die Kinder knuspern, als wallendes weißes Kleid der Hexe bebildern. Auch die Idee von Regisseur Sebastian Hirn, das Geschehen der Initiation eines Geschwisterpaars jenseits der Zivilisation anzusiedeln, gleichsam oberhalb der Baumgrenze oder - wie die bis fast unter das Zeltdach mattschwarz sich wölbende Hügel auch zu deuten sind - in der Todeszone unterhalb eines Vulkankraters: Das überzeugt grundsätzlich.

Faszinierend unheimlich auch der Beginn mit einem Dutzend Sensen-Frauen, die nichts Gutes verheißen. Doch irgend- wann erschöpft sich die (Sexual-)Symbolik, und zwischen Beinrasur und Entkleidung, Menstruationsblutung und Missbrauch wünscht man sich ein wenig mehr suggestive Beleuchtung als durchweg diffuses Graulicht. Der musikalische Eindruck fällt ähnlich disparat aus.

Zwar hat die Reduktion eines romantisch üppigen Orchesterklangs durch Helga Pogatschar auf das Zusammenwirken von Akkordeon, Blockflöte, Klavier, Cello, Bass, Hackbrett, Klarinetten und Schlagzeug unter Leitung von Eva Pons seinen anfänglichen Reiz, denn es korrespondiert mit der Kargheit der Szene und der Schonungslosigkeit der Inszenierung. Doch zunehmend vermisst man eigenständige Akzente und Farben, die man mit dieser Instrumentierung erzielen könnte. Nur in der Hexenszene schleichen sich end lich ein paar Dissonanzen ein, darf die Klarinette gequält quäken. Da vergisst man endlich den Breitwand-Sound über Lautsprecher, mit dem die Tontechniker aller Reduktion zuwider handeln und es auch den exzellenten Sängern nicht leicht machen. Dabei sind Iris Julien (Hansel) und Aki Hashimoto (Gretel) ein famos singendes und harmonierendes Geschwisterpaar, gibt Annerose Hummel ein gestrenges Muttermonster zum Fürchten, und Yo Chan Ahn einen Vater, bei dem der jungmännliche Testosteron-Schub jede Faser seines Körpers erfasst hat und ihn leidenschaftlich und erotisch singen lässt. Bleibt daneben das sinnliche Erlebnis des Wald-Banketts der Starköchin Sarah Wiener. Und wenn‘s schon auf der Bühne keine Lebkuchen zu sehen gibt, so zumindest am Tisch eine entsprechende Mousse für den Gaumen.






Kritik einer Inszenierung am Tollwood München



Bayerische Staatszeitung, 01. Dezember 2006


„Hänsel und Gretel“ auf dem Tollwood-Festival

Besser als das Original

von Egberth Tholl
Das hätte man nicht gedacht, dass ausgerechnet auf dem Tollwood-Festival, dem blümeranten Weihnachtsramschladenverzehrbudenmarkt, die tollste Weihnachtsoper Münchens zu sehen ist. Während sich Staatsoper und Gärtnerplatztheater alle Jahre wieder im Herzeigen ihrer Lebkuchenpreziosen ergehen, nimmt man auf Tollwood Humperdincks Hänsel und Gretel wirklich ernst. Das Festival kehrt zu seinen Avantgarde-Ursprüngen aus grauer Vorzeit zurück.

Der Regisseur Sebastian Hirn schabt alle Tümelei von der Mutter aller Märchenopern ab, erzählt keine possierliche, sondern die Geschichte hinter der Geschichte.

Das Leben ist trist, die Familie von der Welt abgeschnitten - also erkunden Hansel und Gretel ihre aufkeimende Sexualität aneinander (was auch noch auf das Werk des Humperdinck-Idols Wagner verweist). Die Hexe herrscht über eine Gegenwelt zur wenig erfreulichen Realität - hier rasieren sich die Bauernmädel die Beine und die Hexe selbst beschmiert sich mit Blut. Aber was heißt es denn, dass da eine merkwürdige Frau im Wald hockt und kleine Kinder frisst? Das ist nicht lustig, da öffnet sich das Unterbewusstsein, da tritt also auch viel Sexuelles hervor.
Bei Hirn schaut das zwar zugegebenermaßen manchmal ein bisschen karg aus, was sich auf der beeindruckenden Berglandschaft im Zelt ereignet, aber alles, was viele Zuschauer zunächst ein wenig verstört, ist klug beobachtet und präzise aus dem Stück entwickelt.
Den Mut, Hänsel und Gretel zu psychologisieren, muss man erst einmal haben. Und wenn an ein, zwei Stellen die Abläufe noch ein wenig präziser werden, ist diese Inszenierung nicht mehr sehr weit von einem Meilenstein entfernt.

Im ersten und zweiten Akt erreicht sie jetzt schon eine ungeheure Sogwirkung, in perfekter Harmonie mit dem phantastischen Musikarrangement von Helga Pogatschar. Die braucht nur elf Musiker, um Humperdinck besser klingen zu lassen als das Original, arbeitet mit Holzbläsern, Hackbrett und Harmonium präzise und wunderschön die Melodien heraus, schafft herrlich erdige, treibende Klänge, ohne jede Sentimentalität. Eva Pons leitet Musiker und Sänger - junge, tolle, engagierte Leute - voller Lust durch die Musik.

Ein Märchen für Erwachsene, ein Kunstwerk. Schön.