Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


Entführung aus dem Serail, Aachen 2016

Aachener Zeitung, 7. April 2016


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Jenny Schmetz
Aachen Mit seinen Arbeiten sorgt Sebastian Hirn schon mal für Verstörung. Zum Beispiel 2014, als er für seine Installation „Trojanisches Pferd“ Lkw-Unfälle in der Münchner City inszenierte. Oder kurz zuvor am Staatstheater Nürnberg, als er in Glucks Oper „Paride ed Elena“ Sänger mit Wassermassen und Zuschauer mit Scheinwerfern traktierte. Nun arbeitet der Münchner Regisseur und Bühnenbildner erstmals am Aachener Theater. Da hat er schon vor der Premiere mächtig Staub aufgewirbelt — im wörtlichen Sinne.

Der 40-Jährige bringt Mozarts „Entführung aus dem Serail“ auf die Bühne. Das 1782 uraufgeführte Singspiel um den Kulturkonflikt zwischen Abend- und Morgenland findet laut Libretto an einem orientalischen Palast statt. In Aachen war es zuletzt 2005 vor einer riesigen Ölpumpe zu sehen, andernorts wurde es auch schon in die Wüste oder ins Bordell verlegt.

Nun erblickt der Aachener Zuschauer weder Serail noch Vorstadt-Plattenbau noch IS-Terrorcamp, obwohl die Handlung — zwei europäische Frauen werden von einem orientalischen Herrscher und seinem sadistischen Aufseher gefangen gehalten — heute manchen Regisseur zur Aktualisierung verleitet: vom Geschlechterkampf am Bügelbrett bis zu Anspielungen auf Islamismus und Terrorismus.

Aber in Aachen wollen Sebastian Hirn und sein Dramaturg Christoph Lang nun gar keine bestimmte Welt abbilden. Schon Mozart habe mit der damaligen Mode-Gattung der „Türken-Oper“ keine authentische Welt präsentiert, sondern eine Sehnsuchtsvorstellung, geprägt von Exotismus und Rassismus.

Die Aachener Theatermacher wollen anknüpfen an die arabische Erzähltradition: „Der Teppich wird ausgerollt — und das Erzählen beginnt.“ Sogar mit rund 30 Orientteppichen wollte Hirn seine Bühne ausstaffieren, muslimische Kulturvereine und Privatpersonen hatten sie dem Theater geliehen, und darauf wurde auch geprobt.

Aber dann kam eben der Staub ins Spiel. Und zwar massiv — was erst im Scheinwerferlicht der Endproben auf der großen Bühne zu erkennen gewesen sei. „Die Belastung für die Sänger war unerträglich“, sagt Lang — inklusive Hustenanfällen und allergischen Reaktionen. Auch eine Reinigung habe kaum Besserung gebracht. Daher entschloss sich Hirn wenige Tage vor der Premiere, „alle Teppiche rauszuschmeißen“.

„Da blutet mir das Herz“, sagt er. Nun muss also sehr kurzfristig eine Not-Lösung her — mit Hilfe einer Druckerei.
Nicht nur der Dreck von der Bühne soll weg, auch die ursprünglichen Dialogtexte hat Hirn „sehr entstaubt“ — und Fremdtexte integriert: von Montesquieu bis Heiner Müller. Zudem schlägt der Regisseur einen Bogen von der orientalischen Erzähltradition hin zum epischen Theater Brechts und Piscators. So bietet etwa eine Laufschrift über der Bühne mit Kommentaren eine zusätzliche Reibungsfläche.

Für Irritationen könnte auch sorgen, dass der aufgeklärte Muselmann Bassa Selim von einer Frau gespielt wird. Damit wolle man keine lesbische Beziehung zwischen Selim und seiner Gefangenen Konstanze zeigen, sagt Hirn.

Vielmehr habe es ihn interessiert, unabhängig von Macho-Gesten zu fragen: Was heißt es, Macht über einen anderen auszuüben? Und was heißt Aufklärung heute — auch angesichts der Bedrohung von Freiheitsrechten in Zeiten des Terrors? In der Vorlage entlässt der Herrscher seine Sklaven schließlich in die Freiheit. Bei Hirn ist das Ende weniger happy . . .

In Kritiken zu seinen Inszenierungen liest man schon mal was von „pubertär überdrehtem Aktionismus“ oder „radikal verstörenden“ Mitteln. Er scheint weder Darsteller noch Zuschauer zu schonen. „Ich bin ja nicht bestellt zum Schonen“, sagt Hirn. Aber das Aachener Publikum habe nichts Heftiges zu befürchten, meint er lächelnd.

Außerdem ist da ja noch die zu Herzen gehende Musik! Vor der leeren Bühne wird das Sinfonieorchester mit Generalmusikdirektor Kazem Abdullah am Pult durch Glitzerfolie und Lämpchen im Graben betont. Da tritt Hirn in den Hintergrund: „Die Musik haucht der Geschichte erst Leben ein.“

„Die Entführung aus dem Serail“ hat am Sonntag, 10. April, 18 Uhr, Premiere im Theater Aachen. Es singen und spielen Çidem Soyarslan (Konstanze), Patricio Arroyo (Belmonte), Jelena Rakic (Blonde), Keith Bernard Stonum (Pedrillo), Randall Jakobsh (Osmin) und Pascale Schiller (Selim). Weitere Termine bis zum 29. Mai.

Karten gibt es beim Kundenservice des Medienhauses Zeitungsverlag Aachen.






Kritik einer Operninszenierung am Theater Aachen


GrenzEcho, 16.04.2020


Die „Entführung aus dem Serail“ im Aachener Theater

von Sibylle Offergeld


Ja, Rache ist hässlich. Diese Endlosschleife der Vergeltung, in der Gewalt neue Gewalt produziert, war schon zu Mozarts Zeiten ein Gegen-Manifest der Humanität wie in seinem Opus „Die Entführung aus dem Serail“ wert. Im Theater Aachen hat die Regie das Werk jetzt durch einen eigenen sozial-philosophischen Appell erweitert.

Die gegenwärtige Debatte um Flüchtlinge und Fremdenhass geht an den Kulturschaffenden nicht ungehört vorüber. In der „Entführung aus dem Serail“ am Theater Aachen etwa lässt Regisseur Sebastian Hirn kritische Texte von Rousseau bis Sartre einfließen. Während das Publikum die Musik von Mozart (Leitung Kazem Abdullah) bei der Premiere freudig begrüßte, löste die Inszenierung eher ein Gefühl der Entzauberung aus. Allzu zerrupft erschien vielen das Werk, allzu doktrinär die Vermittlung von Werten im Geist der Aufklärung mittels Spruchband wie in einer Kunst-Installation. Anfangs ist die Bühne dunkel und nackt. Der Blick saugt sich an den Eingeweiden der Bühnentechnik fest, bis Helfer einen mit orientalischen Mustern bedruckten Belag ausrollen, auf dem nach alter Tradition des Nahen Ostens erzählt werden soll. In der ersten Stuhlreihe des Parketts nehmen Akteure neben Theaterbesuchern Platz. Dort entfaltet Belmonte (Patricio Arroyo) nach dem kontrastreichen Presto der Ouvertüre vokalen Schmelz, wenn er von der Unruhe des Herzens singt.

Immer wieder zieht es das Ensemble in Publikumsnähe. Ungetrübter kulinarischer Genuss ist nicht vorgesehen. Der Zuschauer soll aus alten Denkmustern zur Neuorientierung finden und sich angesprochen fühlen. Aus den Stuhlreihen deutet auch der Herrscher Selim mit großer Geste zum burlesken bis dramatischen Geschehen auf dem Teppich-Surrogat. Die Akteurin Pascale Schiller spielt den Pascha zunächst mit leicht zerzauster Langhaar-Mähne und lässiger Neuzeit-Gewandung (Kostüme Lisa Däßler) in gewollter Ambivalenz zwischen Härte und Güte. Erst beim Finale des Dreiakters erscheint sie in würdiger und beeindruckender Pose als Galionsfigur der Weisheit. Nach einem Gnaden-Spruch darf dann musikalisch über „soviel Huld“ gejubelt werden. Und vom zweiten Rang schmettert der Chor unter der Leitung von Elena Pierini Hymnisches aus dem 1782 in Wien uraufgeführten Werk des Wolfgang Amadeus Mozart. Das geht unter die Haut.
Eine pittoreske Geschichte wird zur Vorlage für eine humanitäre Rückbesinnung.


Der Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hirn hat sich dem interkulturellen Dialog, der zwischenmenschlichen Achtsamkeit und dem Abbau von Feindbildern verschrieben. Da ist die Geschichte von den als Sklaven verkauften Europäerinnen Konstanze (Cigdem Soyarslan), ihrer Zofe Blonde (Larisa Vasyukhina) und des Dieners Pedrillo (Keith Bernard Stonum) ins Muselmanische für die Regie eine geeignete Vorlage zur humanitären Rückbesinnung. Die Figur des in Gewaltphantasien schwelgenden Aufsehers Osmin (Randall Jakobsh) könnte Vorurteile bestätigen, aber das wird durch neckisches Treiben und die edle Haltung des Paschas ausgeglichen: Der orientalische Herrscher schwört der Rache ab.

Über der Bühnenszenerie zieht derweil unbeirrt eine laufende Schrift mit wechselndem Inhalt ihre Bahn, offenbar eine Art Weckruf für eingelullte, pauschalierende Zeitgenossen. Da heißt es unter anderem „Die heile Welt ist die letzte“. Es folgen Appelle zur Selbsterforschung, zur Sensibilisierung.

Die eingefügte Neuzeit-Sprache ist mitunter rüde. „Verpiss dich“, sagt Blonde zum Macho Osmin, um bald darauf in lachsfarbenen Dessous über die Bühne zu wirbeln. Mit Pedrillo gibt sie der Humoreske in Mozarts Spiel Raum, während Randall Jakobsh dem paarungsbereiten Aufseher mit tiefgründig-sonorem Stimmpotential griffig Kontur verleiht. Die Damen Konstanze und Blonde erfreuen durch vokale Anmut, aparte Mittellagen, sichere Höhen. Klangschönheit zeichnet neben Patricio Arroyo auch Keith Bernard Stonum aus, mit markanter Kompaktheit punktet der Chor. Die kraftvollen Akzente des Orchesters mit den Anklängen an Janitscharen-Musik zu Beginn, das stimmungsvolle Quartett des 2. Aktes und Mozarts geniale Klangsprache beeindrucken das Publikum. Dafür gibt es nach der über dreistündigen Aufführung viel Applaus. Buh-Rufe erntet dagegen das Regie-Team. Alles in allem eine ambitionierte Inszenierung, die polarisiert und zur Diskussion anregt.