Kritik einer Inszenierung an der Oper Dortmund



Delirio amoroso, Dortmund 2008

WAZ, 02. Juni 2008


Spannendes Experiment: Oper und Ballett werden in der Dortmunder Inszenierung „Delirio amoroso“ zusammengeführt. Zu Händels Musik kämpft eine Frau gegen ihren Verlustschmerz

von Werner Häußner
Dortmund. Eine Frau verliert ihren Geliebten. Sie lebte nicht in einer Muster-Beziehung: Der Mann war gewalttätig, hatte ihr schon zu Lebzeiten das Herz gebrochen. Dennoch singt sie ihre Liebe in silberner Zärtlichkeit aus sich heraus. Dann bricht sie auf, ihr Schicksal hinter sich zu lassen. Auf ihrem Weg trifft sie auf drei Frauen aus dem Mythos: Armida, die Sarazenin, die einen Kreuzritter liebte und von ihm verlassen wurde. Agrippina, herrschsüchtige Mutter des Nero, die von ihrem Sohn in den Tod geschickt wird, und die geschändete Römerin Lukrezia, die sich aus Scham und Verzweiflung selbst entleibt.

Im Konzept des Dortmunder Chefdramaturgen Christian Baier hausen diese Frauen am Rande der „Unterwelt“, in den Tiefen der menschlichen Seele. Mit ihrer Wut, ihrem Hass, ihrer Enttäuschung, ihrer Zerrissenheit, ihrer Einsamkeit und ihrem Kummer stehen sie für allgemein Gültiges. Und im Falle des gewagten Dortmunder Experiments, Oper und Ballett zusammenzuführen, wirken sie wie Kopf- und Gefühls-Geburten der Hauptfigur Clori auf dem Weg, ihren Verlustschmerz zu verarbeiten. Ein Mensch von heute - in Teenie-Klamotten, entworfen von Monika Staykova -, der sich in den antiken Frauen widerspiegelt. Am Ende steht dann auch „Lethe“, das Vergessen. Aber nicht im Sinne des Verdrängens, sondern als Versöhnung, als Schicksals-Bewältigung.

Die Musik legt solches nahe : Sie stammt von Georg Friedrich Händel und hüllt die letzte Szene in schwebende Verzückung. Frühe Kantaten Handels stellt Baier zu einem Pasticcio zusammen, eine davon „Delirio amoroso“, gibt der Produktion ihren Namen. Händel leuchtet mit seiner Musik im Alter von nicht einmal 25 Jahren die menschliche Seele in ihren Abgründen aus. Von den Sängerinnen verlangt er alles, was in der musikalischen Darstellung von Emotionen möglich ist: Hysterische Exaltation, verinnerlichte Lyrik, leuchtende und depressive Stimmfarben.
Granville Walker führt die Philharmoniker leichttönig und schwungvoll durch Händels Musik-Gefilde. Die seidigen Violinen gefallen, auch wenn sie gelegentlich straucheln. Maria Hilmes nimmt als Lukrezia mit präsenter Klarheit für sich ein. Aleksandra Zamojska zieht als Agrippina alle Register einer emotional entfesselten Frau, gerät aber durch Verismo-Mittel wie Schreien oder Wimmern zu sehr ins Charchieren. Lydia Skourides kann die Zerrissenheit Armidas vokal wie darstellerisch überzeugend ausdrücken. Ballett und Oper zusammenzubringen, steht einem Mehrspartentheater gut an.

Das Konzept des 1975 geborene Regisseurs Sebastian Hirn erweitert die Bühne Franz Gronemeyers, einen spröden, hölzernen Kasten mit umlaufendem Steg. Zu Beginn sitzen barock gekleidete Gestalten im Publikum, am Ende singen die drei Frauen aus dem Zuschauerraum. Die Ballett-Truppe Xing Peng Wangs kann ihre kraftvolle Agilität kaum zeigen, dient meist als Bewegungschor. Die schwarz vermummten Gestalten deuten Seelenregungen gestisch aus. Das vermittelt sich in Soli klarer als in Ensembles, die hin und wieder wirken, als würden sie die sprechende Musik Händels szenisch verdoppeln.

Dortmund sollte dieses Experiment wiederholen: Stoff bieten zum Beispiel die französischen Opéra-Ballets des 19. Jahrhunderts in Hülle und Fülle.


Händels Spuren: Georg Friedrich Händel (1685 -1759) wurde vor allem durch seine zahlreichen Opern und Oratorien berühmt. Zu seinem Hauptwerk zählen rund 40 Opern und 25 Oratorien, darunter auch das Oratorium Messiah (Der Messias) mit dem weltbekannten Halleluja-Chor. Händel hat in allen musikalischen Gattungen seiner Zeit Kompositionen hinterlassen.