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La morte di Abele, Retz, 05.07. 2024

NÖN.at. Hollabrunn. Uraufführung in Retz


Adam watet im Blut, Eva macht die Kirche sauber


von Christian Pfeiffer
Es war eine sichere Bank und ein Risiko zugleich, das von Intendant Christian Baier für seinen Einstand angesetzte Stück beim heurigen Festival Retz. Sicher, weil es die Tradition der „Kirchenoper“ des Festivals mit „Kain und Abel“ fortführt; aber auch riskant, weil es um modernes Musiktheater geht.

Regisseur Sebastian Hirn hatte bei der Soiree zu „Kain und Abel“ vom Barockkomponisten Leonardo Leo nicht zu viel versprochen, als er ankündigte, dass man an einen Tatort käme, wenn man die Stadtpfarrkirche St. Stephan betritt. So war es dann auch bei der Premiere dieses weltweit erstmals szenisch aufgeführten Oratoriums. Überall auf dem Weg zu den Plätzen waren Tatortmarkierungen, wie man sie aus Krimis kennt, platziert. Eine Frau - Eva – macht mit dem Staubsauger sauber.

Der Beginn war eine Art Prolog, in dem interpretatorisch alles aufblitzte, was die Inszenierung tragen sollte. Denn neben Eva als Putzfrau, die im übertragenen Sinne den Dreck ihrer Familie wegsaugt, ist auch Kain schon präsent. Er vergnügt sich mit seinem Stofftier-Safaripark. Der Vater - Adam - glänzt durch Abwesenheit. Abel ist bereits tot - hier hat ein Verbrechen stattgefunden. Somit lässt Regisseur Hirn die Geschichte retrospektiv ablaufen.

Die Bühne ist neben der Unmenge an Plüschtieren mit Blumen und Kerzen arrangiert, als gälte es dem Opfer eines Attentats - Abel - zu gedenken. Die Rolle des Abel ist in Retz mit einer Frau - Eldrid Gorset, sehr feinfühlig in ihrer Rollengestaltung - besetzt. Das ist einerseits der Stimmlage geschuldet, ergibt aber andererseits ein interessantes Gedankenspiel. Obwohl kostümtechnisch eher androgyn angelegt, drängt sich die Frage auf: Würde die Ermordung der Schwester einen Unterschied machen?

Mit Assoziationen spielt Hirn in seiner Inszenierung auf vielen Ebenen. Er zeichnet Kain und Abel als verwöhnte, trotzige Kinder, wobei Abel meist nachgibt und damit als Klügerer dasteht. Adam - zum Fürchten autoritär: Nikita Ivasechko - betrachtet seine Familie patriarchal von der Kanzel aus. Voller Symbolik auch die Szene, als Abel die Kerzen anzündet, als wüsste er um sein weiteres Schicksal, und Kain - von Markus Bjorlikke als zutiefst zerrissener Mensch gestaltet - diese umgehend ausbläst.

Daraufhin macht sich die Friedenstaube auf dem Altarbild, das den heiligen Stephan zeigt - den ersten Märtyrer des Christentums -, auf und davon. Der Schweizer Animationsfilmerin Nicole Aebersold, die für die Verwandlung des Altarbildes verantwortlich zeichnet, ist eine perfekte Illusion gelungen. Nichts hätte zunächst darauf hingewiesen, dass es nicht das originale Altarbild wäre. Immer mehr verwandelte es sich, bis zuerst Jesus und dann auch St. Stephan
verschwunden waren.

Übrig blieben eine karge Landschaft und eine dräuende Gewitterwolke. Derweil hat Adam, dessen Mitschuld an dem Mord in Form von Blut bereits von Anfang an an seinen Gummistiefeln haftet, Abel wie eine überladene Madonnenstatue ausgestattet. Was folgt ist ein choreografiertes Marionettenspiel ermahnender, strenger, warnender und einladender Gesten. Eva - in jeder Hinsicht aufopferungsvoll: Cornelia Sonnleithner - versucht immer wieder, zwischen Adam und den Kindern zu vermitteln.
Erfolglos, wie man weiß. Nachdem Kain den Entschluss gefasst hat, Abel zu töten, wechselt das „Bühnenbild“ am Altar. Ab jetzt ist ein schier unendlicher Trauerzug samt Leiche zu sehen, der in einer Höhle - dem Erlebniskeller - beginnt. Den Film dazu drehte Aebersold mit 105 Retzern bereits im Frühjahr. Nach und nach schließen sich alle der Prozession an, zum Beispiel auch eine Bäckerin und drei Herren, die gerade noch beim letzten Abendmahl saßen. Irgendwann erreichen die Trauernden ihr Ziel und heben ein Grab aus. Das ist in dem Moment zu sehen, da Abel sich entschließt, mit Kain aufs Feld zu gehen, obwohl ihm sein Inneres sagt: „Tu's nicht.“ Die Inszenierung ist der Geschichte immer ein Stück weit voraus, womit sie zu einer unvermeidlichen wird. Eva erkennt ihren Teil der Schuld an der Katastrophe, versucht, sie verzweifelt von sich wischen. Da geht es Adam pragmatischer an. Er putzt sich wortwörtlich an Eva ab.

Und so geht jeder sehr eigen mit dem Geschehenen um. Kain robbt zur Buße durch den Kirchengang, um sich später in einen Teddybärmantel zu hüllen - zurück in die Kinderstube der Menschheit. Eva umwickelt Rosen mit einem Draht und bastelt sich ihre ganz eigene Dornenkrone. Sie bleibt als gebrochene Frau zurück. Und Adam? Der erniedrigt Eva, gibt ihr die Schuld an allem und lässt sie im Stich. Da kommen einem schon Zweifel, was Gott sich dachte, als er den Menschen erschuf.



Moderne, zupackende Inszenierung einhellig - und hochverdient - bejubelt

Spannend war, abgesehen vom Bühnengeschehen, wie das Publikum diese moderne, zupackende Inszenierung aufnehmen würde. Wie einhellig sich nach dem letzten Ton die Begeisterung der Zuschauer Bahn brach, war doch ein wenig überraschend - wiewohl hochverdient. Jubel und Bravos für die Solisten, aber nicht nur für diese. Viel Begeisterung löste auch der Musikalische Leiter Luca De Marchi samt dem Ensemble Continuum Wien sowie dem Chor aus.

Und auch das Regieteam wurde mit reichlich Applaus bedacht, der sich bis zur Standing Ovation steigerte. Pfarrer Clemens Beirer schien vom Zauber der Verwandlung „seines“ Altarbildes ganz angetan und Helga Rabl-Stadler ehrlich beeindruckt von dem eben Gesehenen und Gehörten.

Empfohlen sei für die jeweiligen Folgevorstellungen die Einführung im Bürgersaal um 18.45 Uhr bei freiem Eintritt. Intendant Christian Baier hat sich in seinem ersten Jahr mutig gezeigt - und Mut wird doch oft belohnt.








Der Standard

OPER

Retzer Oratorium zum Brudermord
Der neue Intendant der Festspiele Retz, Christian Baier, bringt als österreichische Erstaufführung Leonardo Leos "La Morte di Abele" in hoher Qualität

von Ljubiša Tošić, 9. Juli 2024

Das Oratorium als solches ist nicht unbedingt erschaffen worden, um szenische Hyperaktivität auszustrahlen. Auf der Suche nach inspirierender Abwechslung begannen allerdings Opernhäuser und Festivals vor einigen Jahren, diese altehrwürdige Form sehr gerne in Regiehände zu legen, damit etwa Könner wie Claus Guth oder Christof Loy die jeweils sakralen Geschichten zu agilem Musiktheater formen.

Das Festival Retz tut es auch und hat es insofern leicht, als die Stadtpfarrkirche St. Stephan mit ihrem Innencharme ein schillerndes Bühnenbild per se abgibt, das Leonardo Leos Oratorium La Morte di Abele atmosphärisch entgegenkommt. Elegant und behutsam wird die Energie des Raumes, die ästhetische Dichte der optischen Rahmenbedingungen gestalterisch integriert. Zudem wird der zentrale Blickfang, das Altarbild, von Animationsfilmerin Nicole Aebersold einer Metamorphose unterzogen.

Form der Tatortsicherung

Während das ausgezeichnete Vokalquartett – Eldrid Gorset als Abel, Cornelia Sonnleitner als Eva,Markus Bjorlikke als Kain und Nikita
Ivasechko als Adam – die in Leos La Morte di Abele eingefasste Geschichte von Kain und Abel intensiv durchleidet, wandelt sich das Bild nach und nach. Wolken verdüstern sich, eine Taube fliegen hinweg. Und als eine Art Karussell der Trauer zieht ein Prozessionszug (100 Retzerinnen und Retzer), der einen Toten trägt, gleichsam durch das Altarbild.

Die Inszenierung von Sebastian Hirn bezieht dieses filmische Geschehen ebenso ein wie den Kirchenraum als solchen. Auf dessen Boden sind Kleinsttafeln mit Zahlen zu sehen, die wie eine Form der Tatortsicherung wirken. Die Figuren werfen Schatten zwischen den Kirchenbänken. Als schrecklich tragische Familie sind sie aber vor allem auf einer Plattform zwischen Grabkerzen, Blumen und Plüschtieren dabei, Konflikte zu durchleben.

Zum hohen Niveau der Aufführung trägt das edel klingende, historisch informierte Ensemble Continuum Wien unter der sensiblen Leitung von Luca De Marchi bei. Das wiederentdeckte Werk voll der interessanten Ideen wird klangsinnlich wie prägnant vermittelt.











Die Presse

Kain und Abel, kontrapunktisch reich in Retz

07.07.2024 von Josef Schmitt

Christian Baier, Neo-Intendant des Festival Retz, überzeugt mit der österreichischen Erstaufführung von Leonardo Leos barockem Oratorium „La Morte di Abele“. Es ist die weltweit erste szenische Realisierung dieses Werks.

Intendantenwechsel in Österreichs Festivalszene: Nach Gars – Clemens Unterreiner übernimmt von Johannes Wildner – und Klosterneuburg, wo ein Nachfolger für Michael Garschall gesucht wird, hatte der langjährige Intendant des Festival Retz, Alexander Löffler, Ende des vorjährigen Festivals überraschend seinen Rückzug bekannt gegeben. Rechtzeitig für die Programmierung des Festivals 2024 war mit Christian Baier sein Nachfolger gefunden.

Baier, promovierter Musikwissenschaftler, hat viele Musiktheater-Stationen durchlaufen: Dortmund, Wuppertal, Nürnberg und Berlin; in Wien war er Chefredakteur der Österreichischen Musikzeitschrift und Musiktheaterdramaturg der Wiener Festwochen. In Retz möchte er „inhaltlich und künstlerisch an die vergangenen Spielzeiten anschließen.“ Mit der Programmierung des barocken Oratoriums „Morte di Abele“ („Der Tod Abels“), von Leonardo Leo, bewies er, dass dies nicht nur eine leere Versprechung war.

Die österreichische Erstaufführung des Werks in der Retzer Kirche St. Stephan war weltweit die erste szenische Realisierung dieses Werks. Leonardo Leo (1694-1744) war einer der wichtigsten Komponisten der Neapolitanischen Opernschule. „La Morte di Abele“ entstand nach einem Libretto von Pietro Metastasio.


Mit Luca de Marchi hat ein ausgewiesener Barockexperte das Oratorium einstudiert. Er verbrachte Monate damit, aus den erhaltenen historischen Abschriften spielbares Notenmaterial zu erarbeiten. Mit dem Ensemble Continuum Wien gelang ihm eine überaus spannende Realisierung des kontrapunktisch reichen Werks, selbst in den lediglich vom Generalbaß begleiteten Rezitativen von dramatischem Atem und harmonischer Farbigkeit.

Der Münchner Regisseur Sebastian Hirn, ehemals Assistent von Luc Bondy, verzichtete in seiner Inszenierung auf billige zeitgeistige Aktualisierungen. Dank starker, aber niemals aufdringlich kontrastierender Typisierung gelangen in der gemeinsam mit der Schweizer Filmemacherin Nicole Aebersold erarbeiteten Mischung aus traditionellem Bühnenbild und moderner Technologie starke Momente.

Geschwister- und Generationen-Konflikte zeichneten der norwegische Tenor Markus Bjørlykke als stimmgewaltiger, dramatischer Kain sowie die norwegische Sopranistin Eldrid Gorset als Abel, die mit modulationsfähigem Sopran zwischen freudiger Naivität und beklemmender Todesahnung changierte.

Der ukrainische Bariton Nikita Ivasechko, Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper, gab mit sonorem Bass-Bariton den von Grund aus bösen Adam. Eva, Cornelia Sonnleithner, gelang zuletzt dank ausgewogenem Mezzo-Timbre der emotionale Höhepunkt, während sie ihren toten Sohn Abel in einem Grab aus Stofftieren begrub. Für de Marchi und das exzellente Solistenquartett gab es am Schluss Standing Ovation.